Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
gebunden war. Ihre Haut war hell, viel heller als bei
Marie Lindley, doch wirkte diese Blässe nicht so glatt und
vornehm wie bei den Damen der Rongs. Rote Flecken entstellten ihren
Hals. Unter den Augen lagen bläuliche Schatten und die Wangen
waren eingefallen. Sie schien auf ungesunde Weise ausgebleicht.
Übertrieben
langsam und deutlich sprach sie Chuntian an, die sogleich antwortete.
Ein fassungsloser Ausdruck huschte über das Gesicht der Lao Wai,
dann fing sie sich und redete in normalem Tempo weiter. Ihre Stimme
klang gepresst. Yazi musterte indessen staunend das merkwürdige
Kleid dieser Frau. Es schien unnötig schwer und wuchtig, ganz
wie die Möbel des Hauses. Um die Taille zwängte es den
Körper der Frau ein, als solle er in zwei Hälften zerdrückt
werden. Sie konnte sicher nicht unbehindert atmen. Darunter breitete
sich eine Art Käfig aus, der mit Stoff umhangen war und in dem
die Beine der Lao Wai stecken mussten. Sie glich einer halbierten
Laterne, die über den Boden glitt.
»Mutter,
sie sagt, dass Andrew nicht hier ist«, meinte Chuntian
schließlich mit gesenktem Blick. »Angeblich gilt er als
verschollen. Sie will, dass wir gehen. Sie glaubt nicht, dass Jinzi
Andrews Sohn ist.«
»Dann
zeig ihr den Ring! Darauf steht Andrews Name«, rief Yazi
wütend. Sie mochte eine Mörderin sein, doch niemand sollte
sie unberechtigt der Lüge bezichtigen. Erst als Chuntian den
Ring an sich genommen hatte, fiel ihr ein, dass der Name ihres Mannes
dort in chinesischen Schriftzeichen stand. Wie erwartet nahm die Lao
Wai Chuntians Übersetzung nicht ernst. Ein abfälliger Zug
legte sich um ihre Mundwinkel, die bereits von Falten eingerahmt
wurden, obwohl sie noch jung aussah. Ihre Schläfe wurde von
einer blaugrünen Beule entstellt, als hätte sie vor Kurzem
einen heftigen Schlag erhalten. Wahrscheinlicher aber schien es Yazi,
dass die Frau sich an einem der klobigen Möbelstücke
gestoßen hatte.
Yazi
überlegte fieberhaft, wo sie einen Übersetzer finden
könnte, dem die Lao Wai Glauben schenkten. Sie wusste niemanden.
Dann spürte sie plötzlich den Blick der fremden Frau auf
sich ruhen. Eine heftige Abneigung brannte in den blaugrauen Augen,
als wolle sie Yazi durch die Kraft ihrer Gefühle erdolchen.
»Wir
brauchen hier keine chinesische Hure und ihre Bälger!«,
sagte die Lao Wai sehr langsam und deutlich. So deutlich, dass Yazi
es auch ohne Chuntians Hilfe verstand.
Wieder
schoss unbändige Wut durch ihren Körper. Sie hob die Hände
zum Angriff, sah diese Fremde, die zwei Köpfe größer
war als sie selbst, erschrocken zurückweichen. Yazi rannte los.
Bevor sie weiter nachgedacht hatte, lag ihre Hand an der Kehle der
Lao Wai und drückte sie gegen die Wand. Wie schwach diese
eingeschnürte, mit unnötigem Gewicht behangene Frau doch
war! Ihre Augen waren große, runde Teiche der Furcht. Ihr
Wimmern verstummte, als Yazi fester zudrückte. Schweißperlen
glänzten auf ihrer Stirn. Ihre Haut war schuppig und man konnte
große, schwarze Poren darin erkennen. Sie stank vor Angst.
»Was
machst du da? Du bringst sie ja um!«, rief Chuntian und zerrte
hilflos an Yazis Arm. Aber es waren nicht die Ermahnungen ihrer
Tochter, die Yazi innehalten ließen. Etwas in dem Blick der
Frau verstörte sie, ein Schmerz, der sich hinter all ihrer
Arroganz und Unverschämtheit verborgen hatte und nun immer
deutlicher zutage trat. Sie sah müde aus, ausgelaugt und ohne
echten Lebensmut, der ihr die Kraft verliehen hätte, sich zu
wehren. Je fester Yazi zudrückte, desto bereitwilliger nahm ihr
Opfer sein Schicksal an, als würde es dadurch erlöst.
Wenn
sie diese Frau erwürgte, dann tat sie ihr dadurch einen
Gefallen.
Yazi
ließ ihre Hand sinken. Sie hörte ihr Herz rasen und Farben
flimmerten vor ihren Augen. Die Lao Wai sackte in die Knie. Mit weit
offenem Mund rang sie nach Luft, ihre Kehle tat sich als dunkelrotes
Loch auf.
»Los,
wir müssen weg, bevor sie anfängt zu schreien!«, rief
Chuntian und drückte den leise wimmernden Jinzi an sich, um ihn
dann hochzuheben. Yazi staunte über die plötzliche
Geistesgegenwart ihrer weltfremden Tochter, die sie aus dem Haus
zerrte. Sie rannten die breite Straße am Ufer des Huangpu
entlang, stießen Menschen zur Seite und wichen Gefährten
aus. Der Atem rasselte in Yazis Brust. Sie musste weg, auch wenn sie
kein klares Ziel mehr vor Augen hatte. Andrew war fort. Aber es gab
noch
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