Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
Wasser zu
halten«, sagte sie schließlich, erfreut, eine so
offensichtliche Lösung für ihre Probleme gefunden zu haben.
Jetzt
lachte Amalia Virchow derart bissig und abfällig, dass Viktoria
sich ungewollt duckte, als müsse sie Schlägen ausweichen.
»Arbeiten!
Und was bitte genau? Du hast über Handarbeiten stets die Nase
gerümpft, kannst nicht einmal richtig nähen. Möchtest
du als brave Dienstbotin herumhuschen? Schon nach einer Woche würdest
du wegen deines frechen Mundwerks entlassen werden. Davon abgesehen,
dass es ein Hungerlohn wäre.«
»Das
also haben wir unseren Bediensteten bezahlt! Wie schön, dass Sie
es zugeben!«, erwiderte Viktoria in ebenso giftigem Tonfall,
doch ihre Mutter verzog nur das Gesicht, als sei dieser Vorwurf zu
albern, um eines Kommentars würdig zu sein. Viktoria stützte
sich an der Stuhlkante ab. Am liebsten wäre sie auf der Stelle
davongelaufen, aber sie musste ihrer Mutter einen glaubwürdigen
Plan darlegen, um nicht als Verliererin dazustehen. Ihr Gehirn
arbeitete auf einmal mit rasender Geschwindigkeit. Was machten
verarmte Töchter aus gutbürgerlichen Verhältnissen?
Die Lektüre der geliebten Romane der Brontë-Schwestern
hatte ihr die Antwort gegeben, auch wenn es ihr jetzt erst bewusst
wurde. Wer nichts weiter gelernt hatte, als eine Dame zu sein, konnte
dieses Wissen wenigstens weitergeben.
»Ich
kann fließend Englisch und Französisch«, hielt sie
ihrer Mutter entgegen. »Ich kenne mich mit Kunst aus, und beim
Zeichenunterricht wurde ich stets gelobt. Außerdem spiele ich
gut Klavier. Ich werde mich als Gouvernante oder Gesellschafterin
bewerben. Morgen besorge ich mir eine Zeitung und suche nach
Stellenanzeigen.«
Im
Geiste glitt sie in die Welt von Charlotte Brontë, deren
verhuschte Romanheldin sich in Brüssel mit verwöhnten,
biestigen Mädchen herumschlug. Ihr würde so eine Aufgabe
vielleicht leichter fallen, denn sie selbst war doch bis vor Kurzem
so eine Tochter gewesen.
Entschlossen
stand sie auf und wollte hinausgehen, doch die Stimme ihrer Mutter
riss sie zurück.
»Du
hast einen schlechten Ruf. Keine angesehene Familie in Hamburg wird
dich einstellen.«
»Dann
muss ich Hamburg eben verlassen. Ins Ausland gehen, wo mich niemand
kennt.«
Viktoria
drückte die Türklinke nieder. Ein Schritt noch, dann war
sie von ihrer Mutter erlöst.
»Aber
was wird aus mir, wenn du fortgehst?«
Die
Frage klang so ängstlich und schwach, dass Viktoria sich
umdrehen musste.
»Sie
können den Herrn Fiedler heiraten. Ihnen gefällt er ja, und
er wäre ungefähr in Ihrem Alter«, meinte sie so
scherzhaft, wie die Lage es nur zuließ. Ihre Mutter lachte
nicht, noch wurde sie wütend.
»Ich
würde ihn gern nehmen, aber er wünscht sich eine junge
Frau, mit der er noch Kinder haben kann«, flüsterte sie
nur. »Einen Mann, der sich um sein Geschäft kümmert,
anstatt Geld für hochgeistige, sinnlose Kunst zu verschwenden,
den habe ich mir immer gewünscht. Aber meine Eltern ließen
mir damals keine Wahl.«
Auf
einmal schien Amalia Virchow klein und unglücklich. Mit den
großen Augen und der spitzen Nase glich sie einem aus dem Nest
gefallenen Eulenküken. Viktoria wusste, dass sie Mitleid
empfinden sollte, aber es war ihr nicht möglich. Die Worte ihrer
Mutter hatten an einer kaum verheilten Wunde gekratzt.
»Mein
Vater war ein kluger, guter Mann«, hörte sie sich empört
rufen. »Reden Sie nicht schlecht von ihm!«
Ihre
Mutter lehnte sich erschöpft zurück.
»Zu
dir war er nett. Mich mochte er nicht, von Anfang an. Ich hätte
ihm seine Liebschaften verziehen, doch warum musste er uns deshalb
ruinieren?«
Sie
schüttelte den Kopf, als hätte sie immer noch keine
Erklärung für dieses Unglück gefunden. Viktoria wurde
zunehmend unwohl. Sie wünschte sich, der Gegenwart ihrer Mutter
entkommen zu können, doch ihr Gewissen hielt sie zurück.
Sie musste Trost spenden, aber ihre Zunge war nicht fähig, die
nötigen Worte zu formen.
»Und
du bist wie er«, redete ihre Mutter unbeirrt weiter. »Du
denkst nur an dich. Ich bin dir gleichgültig.«
Sie
legte eine kurze Pause ein und putzte sich mit einem Taschentuch die
Nase. Viktoria stand völlig still. Sie fühlte sich zu
ausgelaugt für einen Streit mit ihrer Mutter, hoffte nur, das
Gespräch sei endlich beendet. Doch Amalia Virchow
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