Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
verkrampfter Nachsicht.
Zu Viktorias Erleichterung stand sie aber sogleich auf. Sie verließen
Onkel Eriks Haus in Sankt Georg. Der erste Ausflug in die durch
unerwartete Hässlichkeit entstellte Welt war endlich beendet.
******
Sie
fuhren mit einer Droschke heimwärts, denn Kutsche und Pferde,
auch der geliebte Rappe Charlie, waren bereits verschwunden. Amalia
Virchow musterte schweigend Hamburgs Fassaden, die an ihnen
vorbeizogen. Viktoria fühlte sich leichter, als sie endlich vor
der vertrauten Villa hielten. Nun, da sie Marienthal bald würde
verlassen müssen, gefiel es ihr besser als jemals zuvor. Sie
wollte sogleich in ihr Zimmer eilen, um sich aus Korsett und
elegantem Tageskleid zu befreien, doch ihre Mutter zerrte
entschlossen an ihrem Ärmel.
»Wir
müssen reden.«
»Worüber?«,
fragte Viktoria müde. Warum ließ man sie nicht ungestört
in ihrem Zimmer liegen, solange sie es noch hatte?
Ȇber
die Zukunft. Du kannst nicht ständig die Augen vor ihr
verschließen. Das Leben geht weiter«, meinte ihre Mutter
unbarmherzig. Viktoria seufzte. Sie fühlte sich zu schwach für
einen Streit, deshalb folgte sie gehorsam in das Zimmer ihrer Mutter.
Es gab keine Diener mehr, die Kaffee servierten. Nur Magda und die
treue Köchin waren geblieben.
»Du
hast Herrn Fiedler gefallen«, begann Amalia Virchow
unvermittelt, als Viktoria noch im Begriff war, sich auf einen Stuhl
zu setzen. »Er ist durchaus vermögend. Ein Witwer, aber
kinderlos.«
Ein
hysterisches Kichern zwängte sich aus Viktorias Kehle.
»Ich
würde mich ja gern geschmeichelt fühlen, aber die Torten
des großen Konditors zeugen nicht von gutem Geschmack.«
Amalia
Virchow holte unnötig laut Luft.
»Ganz
gleich, was du von seinen Torten hältst, er macht gute Geschäfte
damit. Er könnte dir ein angenehmes Leben bieten.«
Viktoria
riss fassungslos die Augen auf. Dies also war der Grund für den
heutigen Ausflug zur lieben Verwandtschaft gewesen! Zuerst begann ein
heftiger Zorn in ihr zu kochen, dann befreite sie sich davon, indem
sie in schallendes Gelächter ausbrach. Herr Fiedler mochte ja
ein durchaus netter Mann sein, doch sie wollte in ihrem Ehebett nicht
unter diesem Windbeutel liegen.
»Bei
dem Gedanken, diesen Mann zu heiraten, fühle ich mich so unwohl
wie nach dem Verzehr seiner Torte«, stieß sie haspelnd
hervor.
Amalia
Virchow wartete geduldig, bis der Anfall vorbei war. Dann setzte sie
völlig ruhig zum Reden an.
»Ich
weiß, er ist kein Anton von Scharpenberg. Aber du hast dich von
einer schönen Erscheinung in extravaganter Kleidung blenden
lassen. Herr Fiedler scheint mir ein ehrlicher, zuverlässiger
Mann, und das ist viel wert. Deine Lage hat sich geändert, mein
Kind. Du kannst es dir nicht mehr erlauben, wählerisch zu sein.«
Viktoria
richtete sich auf. Die Erschöpfung der letzten Wochen hatte
schlagartig nachgelassen. Sie war auf einmal hellwach und
entschlossen.
»Nein«,
sagte sie nur.
Amalia
Virchow hob die Hände, doch schien diese kurze, klare Antwort
etwas Wind aus ihren Segeln genommen zu haben, denn sie verfolgte das
Thema nicht weiter.
»Und
wie soll es deiner Meinung nach weitergehen?«, fragte sie
stattdessen. »Die Beerdigung deines Vaters war vor drei Tagen.
Wir müssen dieses Haus verlassen, bevor man uns gewaltsam
herauszerrt.«
Viktoria
rieb sich die Schläfen. Wie gern wäre sie wieder in ihr
Zimmer geflüchtet! Aber allmählich wurde ihr klar, dass sie
sich nicht auf Dauer verstecken konnte.
»Wie
viele Schiffe bleiben uns noch?«, fragte sie unsicher.
»Keines.
Sie wurden alle von den Gläubigern beschlagnahmt. Ein paar
Kunstgegenstände sind geblieben, weil niemand etwas mit ihnen
anfangen konnte. Onkel Erik wird uns aufnehmen, aber er wird nicht
begeistert sein, dich bis an dein Lebensende durchfüttern zu
müssen.«
Viktoria
verschränkte die Hände vor der Brust, um diese Worte
abzuwehren. Dann versuchte sie verzweifelt, Klarheit in ihre Gedanken
zu bringen. Sie hatte nach dem Besuch bei Anton wieder begonnen,
Laudanum zu nehmen. Jetzt bereute sie es auf einmal, denn es
verlangsamte ihr Denkvermögen. Sie war arm. Sie hatte keinen
Vater und keinen Verlobten mehr, die für sie sorgen konnten. Und
nun musste irgendetwas geschehen.
»Ich
werde mir eine Arbeit suchen müssen, um uns über
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