Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
holte nochmals
Luft.
»Deine
Unachtsamkeit, der Starrsinn, mit dem du stets missachtet hast, wie
ein anständiges Mädchen sich benehmen soll, haben alles
noch schlimmer gemacht.«
»Was
meinen Sie denn immer mit diesem Vorwurf?«, flüsterte
Viktoria, ohne wirklich zu wissen, ob sie eine Antwort hören
wollte. Sie kam trotzdem ohne jedes Zögern.
»Du
hättest deinen Verlobten bis zur Hochzeitsnacht warten lassen
sollen wie jede vernünftige Frau. Ich kann dieses Verhalten
nicht verstehen. Diese … diese Dinge sind unangenehm, oft
widerwärtig, aber eine Frau muss in der Ehe ihre Pflicht
erfüllen. Du aber wirfst dich wie ein billiges Schankmädchen
diesem Schönling an den Hals, bevor du es überhaupt musst.
Ich habe nur eine Erklärung für dein Verhalten: völlige
Dummheit!«
Nun
hatte sich ein Dolch in Viktorias Brust gebohrt. Sie begann zu
schreien.
»Es
wundert mich nicht, dass mein Vater Liebschaften hatte, wenn er zu
einem Leben an der Seite eines Eisblocks verdammt war!«
Ihre
Mutter verwandelte sich schlagartig in eben jenen Block aus Eis. Dann
richtete sie sich langsam auf und zog die Schultern zurück. Ihre
Niedergeschlagenheit war von eiskaltem Zorn weggeschwemmt worden.
»Geh
weg!«, zischte sie mit funkelnden Augen. »Ich will dich
nicht sehen!«
Viktoria
strauchelte und hielt sich am Türknauf fest.
»Dann
gehe ich eben. Ich verlasse das Haus, um Ihnen nicht weiter zur Last
zu fallen!«
Sie
lief durch die bereits halb geöffnete Tür, durch den Gang
und eilte in ihr Zimmer. Sobald sie sich allein wähnte, riss sie
Schubladen und Schränke auf. Ihr Musselinkleid und ein
schlichtes Gewand aus braunem Tuch für den Winter wurden
herausgerissen. Sie warf den Granatschmuck darauf und nach kurzem
Zögern auch den Drachenreif, obwohl sein Anblick immer noch
wehtat. Sie wollte eine letzte Erinnerung an den Vater in ihr neues,
ungewisses Leben mitnehmen. Dann sank sie für eine Weile
erschöpft auf das Bett, denn allein die Auswahl ihres Gepäcks
hatte sie unerwartet angestrengt. Sobald sie die Augen schloss,
begann die Schwermut wieder wie Gift durch ihre Adern zu fließen.
Wo sollte sie denn hin, sobald sie aus dem Haus gestürmt war?
Aus halb geöffneten Augen warf sie einen sehnsüchtigen
Blick auf die Flasche mit dem Laudanum auf ihrem Nachttisch. Warum
sich nicht noch eine Nacht des friedlichen Dahindämmerns gönnen,
bevor sie sich der plötzlich so unerbittlich hart gewordenen
Welt stellte?
Viktorias
Arm streckte sich, um nach der Flasche zu greifen. Sie schraubte den
Stöpsel ab und wollte ein paar Tropfen in das leere Glas fallen
lassen, als ihr auf einmal bewusst wurde, dass sie im Begriff war,
sich in ein ergeben leidendes Wesen zu verwandeln wie Sophie. Ohne
weiter nachzudenken, schleuderte sie die Flasche gegen die Wand. Als
braune Flüssigkeit die zarten Blüten der Tapete zu
verfärben begann, fühlte sie einen Stich des Bedauerns,
denn Laudanum würde sie sich nicht mehr leisten können.
Aber es war wohl besser so.
Viktoria
stand auf und zog die große Gobelintasche unter dem Bett
hervor, die Magda bei Reisen stets für sie gepackt hatte. Sie
stopfte die bereits ausgewählten Kleidungsstücke und den
Schmuck hinein, wählte noch zwei Nachthemden, Strümpfe und
sonstige Utensilien. Die Brontë-Romane mussten mit, denn
immerhin war sie von ihnen auf diesen Weg geschickt worden.
Schließlich wurde ihr klar, dass sie für den Anfang Geld
brauchen würde. In ihrem Ridikül klimperten noch ein paar
Münzen, doch würden sie nicht einmal für eine Nacht in
einer billigen Absteige reichen. Ihr Blick schweifte ratlos durch den
Raum, um schließlich an der Schmuckschatulle hängen zu
bleiben. Sie wusste nicht, ob all die Juwelen juristisch ihr Eigentum
waren oder das ihrer Mutter, aber sie würde ein paar Stücke
mitnehmen, um sie zum Pfandleiher zu bringen.
Bald
darauf schleppte Viktoria eine unerwartet schwere Tasche durch den
Gang. Vor der Tür zum Zimmer ihrer Mutter ließ sie ihre
Schritte bewusst langsam und laut werden. Tief in ihrem Inneren
sehnte sie sich nach einem einzigen Wort, das sie daran hindern
würde, völlig allein in eine ungewisse Zukunft
aufzubrechen. Aber es blieb totenstill.
******
Zwei
Monate waren vergangen. Durch das schmutzige Fenster wirkte der
Himmel wie eine graue, düstere Masse, hinter der die Umrisse von
Schiffen sich
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