Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
verschwommen abzeichneten. Viktoria starrte auf ein
leeres Blatt Papier, das danach verlangte, mit Schriftzügen
bedeckt zu werden. Eine weitere Bewerbung als Erzieherin in Bremen.
In ihrem Kopf ratterte sie Sätze nach gewohntem Muster herunter,
erwog und verwarf sie wieder. Tochter aus gutem Hause, leider durch
tragische Umstände gezwungen ….Sie wollte nicht wie eine
Bettlerin klingen, denn dies hatte bisher nicht zum Erfolg geführt.
Dann also eine junge Dame, die … die eine Herausforderung
suchte. Das klang nach einer unzuverlässigen Abenteurerin. Eine
kinderliebe, kultivierte junge Dame … das war vielleicht ein
Anfang. Niemand brauchte zu wissen, dass sie sich bisher nichts aus
Kindern gemacht hatte. Aber hatte sie diesen Satz nicht schon
irgendwann geschrieben?
Viktoria
unterdrückte ein Gähnen und rieb sich die Schläfen.
Wie wohl täte jetzt doch eine Tasse frischen, starken Kaffees!
Am Anfang hatte die Wirtin ihr mit honigsüßem Lächeln
ganze Kannen serviert, doch jetzt, da sie mit der Miete zwei Wochen
im Rückstand war, warf sie Viktoria nur noch missbilligende
Blicke zu, sobald ihre Wege sich kreuzten. Dabei hatte Viktoria sich
für dieses schäbige Hotel entschieden, weil sie sich dort
sicher vor Begegnungen mit Bekannten aus ihrem früheren Leben
fühlte und weil sie gedacht hatte, der Name Virchow könne
an diesem Ort noch die gewohnte Wirkung haben. Doch die Wirtin hatte
keine Miene verzogen. Sie wusste vermutlich nicht, wer die Virchows
einst gewesen waren. Eine zahlungsfähige junge Dame hatte sie
mit ausgesuchter Freundlichkeit behandelt, die aber ebenso schnell
nachgelassen hatte wie deren Zahlungsfähigkeit.
Viktoria
wusste nicht mehr genau, wie viele Briefe an unbekannte Schulen und
Familien sie in letzter Zeit geschrieben hatte. Papier und Tinte, die
in ihrem früheren Leben selbstverständliche Kleinigkeiten
gewesen waren, hatten sich in eine Kostbarkeit verwandelt. Sie rieb
sich ratlos die Stirn und drückte den Füllfederhalter so
fest zusammen, dass er knackste und sie einen Moment lang fürchtete,
er könnte zerspringen.
Bisher
hatte sie einige sehr höflich formulierte Absagen erhalten. In
den meisten Fällen war allerdings gar keine Antwort gekommen.
Zwei Familien hatten sie um Referenzen gebeten, doch war ihr nicht
klar, von wem sie etwas Derartiges bekommen sollte. Machte es
überhaupt Sinn, sich hier weiter zu plagen?
Viktoria
legte den Füllfederhalter auf den Tisch. Hätte sie
vielleicht damals ein billigeres Exemplar nehmen sollen, ohne
vergoldete Feder, wie sie es gewöhnt war? Arm zu sein erwies
sich als täglicher, schmerzhafter Abschied von vertrauter
Annehmlichkeit. Sie konnte sich allmählich keinen Kuchen in
feinen Konditoreien mehr leisten, musste auf das Abendessen in
gepflegter Atmosphäre verzichten. In billigen Lokalen zu essen
war gewöhnungsbedürftig, nicht nur für den Magen.
Während eine Frau allein am Tisch in feinen Lokalen nur
angestarrt wurde, gab es in den schlichten Eckkneipen des Hafens
lästige Annährungsversuche und eindeutige Angebote
männlicher Gäste. Viktoria war nie bewusst gewesen, wie
viel unangenehme Wirklichkeit das Vermögen ihres Vaters lange
vor ihr verborgen hatte. Gestern hatte sie sich überwunden, am
Hafen eine Fischverkäuferin zu fragen, ob sie eine Aushilfe
brauchte. Sie war stolz gewesen, so vernünftig und
unvoreingenommen zu sein, dass sie sich mit ihrer kultivierten
Erziehung zu einer solchen Tätigkeit bereit zeigte. Doch statt
einer erfreuten Annahme des Angebots hatte es nur fassungsloses
Starren gegeben. Diese Arbeit sei nichts für vornehme Fräuleins,
wurde ihr hinterhergerufen, nachdem sie mit einem energischen
Händefuchteln verjagt worden war. Dabei waren die Ärmel des
Musselinkleides bereits zerschlissen.
Sie
vergrub ihr Gesicht in den Händen. Sie sehnte sich nach Laudanum
oder wenigstens einem Glas guten Sherry. Niemals hatte sie sich ein
eigenständiges Leben derart schwierig vorgestellt. Es war, als
müsse sie in Seidenpantoffeln eine steile Klippe erklimmen.
Ein
Klopfgeräusch riss sie aus ihrem Dahindämmern. Sie zuckte
ängstlich zusammen. Es musste die Wirtin sein, die wissen
wollte, wann sie endlich ihre Miete bekäme. Mit gepresster
Stimme stieß Viktoria ein »Herein« hervor, denn sie
konnte sich nicht ewig vor der Hausherrin verstecken. Nun müsste
sie wohl das Winterkleid zum Pfandleiher bringen, der ihr bereits
einen erschreckend
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