Das Geheimnis der Krähentochter
sich erzählte,
klangen seine Worte nicht prahlerisch. Was er zu sagen hatte, war mit Bedacht
gewählt, er wirkte klug und anregend.
Die Tage flossen gleichmäßig dahin. Der Palast war immer noch eine
Insel inmitten eines riesigen Ozeans, weitab vom Festland, weitab von dem, was
die Welt bewegte. Berninas Blick auf die Schönheit dieser Insel hatte sich
verändert. Anfangs war sie einfach nur beeindruckt gewesen von der Eleganz um
sich herum. Von den namenlosen Dingen, von den Stoffen und Gegenständen, von
der Kleidung, die sie mittlerweile Tag für Tag an ihrem Körper trug.
Beeindruckt war sie auch weiterhin, aber die Dinge blieben nicht namenlos.
Etliche Stunden gemeinsam mit Helene und die vielen Unterhaltungen
bei den abendlichen Gesellschaften hatten dafür gesorgt, dass sich Bernina
diese neue Welt Schritt um Schritt erschloss. Ihre Unwissenheit nahm ab. Und
mit ihrem neuen Wissen wurde ihre Umgebung fassbarer. Bernina sah nicht mehr
nur deren Schönheit, sondern fand es viel bemerkenswerter, hinter die
rätselhafte Herkunft dieser Schönheit blicken zu können. Ihr kam es vor, als
hätte sie rein gar nichts gewusst, bevor sie den Palast zum ersten Mal betreten
hatte. Nun gewann sie Eindrücke davon, wie vielfältig die Welt sich gestalten
konnte.
Ein einfacher Rundgang durch Schloss Wasserhain war für sie jedes
Mal wie ein Ausflug in ferne Gegenden. Immer wieder aufs Neue fasziniert
wanderten ihre Blicke über Goldledertapeten und Damasttischwäsche, über
Gobelins aus Flandern und Teppiche aus Venedig, über Tafelsilber aus Genua.
In aller Stille ließ sie diese oder andere Namen bisweilen über
ihre Lippen gleiten. Venedig. Genua. Wie geheimnisvoll fremde Wörter sein
konnten, welche Ausstrahlung sie besaßen. Und wieder einmal wurde Bernina
bewusst, wie groß die Welt war und wie wenig sie davon kannte. Sich im Palast
ganz ungezwungen aufzuhalten, war nach wie vor eigenartig für sie. Als würde
sie ein exotisches und makelloses Gebiet erkunden, in dem es Spuren vieler
Länder zu entdecken gab. Bei jedem Abendessen meinte sie den Duft des
Paradieses zu riechen, den Geschmack des Paradieses zu schmecken. Ihre Zunge,
ihr Gaumen hatten viel gelernt, Neues probiert. Köstlichkeiten, von denen
Bernina nie zuvor auch nur gehört hatte: Ingwer, Zimt und Mandeln,
Artischocken, Pistazien und Koriander, Nürnberger Lebkuchen und anderes Gebäck.
Sie hatte Rebhühner und Fasane gekostet und kaum für möglich gehalten, dass
Fleisch auf der Zunge zergehen konnte. Sie hatte Rheinwein getrunken, auch
Burgunder und Veltliner.
Unmöglich, sich von all dem nicht verzaubern zu lassen. Und das,
obwohl von Zeit zu Zeit Melchert Poppels Worte in ihrem Ohr nachklangen, sie
solle sich im Palast vorsehen. Neu war auch dieses besondere Gefühl, auf einem
edlen Hengst dahinzugleiten. Sie war früher schon öfter auf dem Rücken eines
der Ackergäule des Petersthal-Hofes gesessen, aber das war nicht zu
vergleichen. Zuerst war es Bernina komisch vorgekommen, dass eine Frau ein
Pferd besteigen sollte, aber für die Gräfin zu Wasserhain gehörte das zum
Alltag, sobald die Witterung nicht mehr ganz so unfreundlich war.
»Keine meiner Freundinnen reitet«, erklärte Helene ihr einmal.
»Doch für mich ist das eine der schönsten Beschäftigungen überhaupt. Ob es sich
für eine Dame geziemt oder nicht, das ist mir egal. Und ich wusste, dass auch
du anders bist als die anderen. Bernina, du bist wie geschaffen für wilde
Ausritte.«
Bernina lachte sie an, fasziniert vom kuriosen Bild ihrer
Freundin, die rund und prall auf dem Sattel auf und ab hüpfte.
Oft brachen sie nachmittags auf, seitlich auf dem Rücken der
Pferde sitzend, Hengste, die aus Spanien und Friesland stammten und von denen
jeder einzelne unvorstellbare 1.000 Gulden wert war. Inzwischen wagte Bernina
auch allein so manchen Ritt, in einer weiten Runde um Palast und Parkanlagen,
hinein in die nahen Wälder.
Warm fühlte sie die Muskulatur des Tiers durch die Stoffe ihrer
Kleidung. Bernina lauschte dem leisen Hufschlag auf weicher Erde, die sich
immer mehr von Frost befreite. Sie verlor sich in Gedanken und fragte sich,
welches Bild sie selbst während eines Ritts abgab, wie sie auf einen Fremden
wohl wirken mochte. War sie noch mit der jungen Frau zu vergleichen, die einst
auf dem Petersthal-Hof gelebt hatte?
Sie genoss das Alleinsein und es zog sie immer wieder zu dem Bild
des Mädchens. Dieses Bild konnte ihr, das fühlte sie, ihr früheres
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