Das Geheimnis der Krähentochter
dann mit dieser Platzwunde dalag«, Helenes
Gesicht offenbarte ihre Amüsiertheit, »da dachte ich: Schau doch einfach mal
nach, ob wir unseren geheimnisvollen Gast nicht mit einer Notlüge aus seinem
Versteck locken können.«
Auch Bernina zeigte ein Lächeln. »Darauf bin ich mittlerweile
selbst gekommen. Dass die kleine Verletzung nur ein Vorwand gewesen ist.«
»Ja, natürlich.« Helene nickte, fast ein wenig stolz auf sich.
»Ich musste einfach wissen, wer sich hinter dieser immerzu geschlossenen Tür
verbirgt.«
»Und? Heute wissen Sie es?«
»Nein«, erwiderte die Gräfin lachend, »aber das macht Sie ja
gerade so interessant.«
»Was hat Falkenberg noch über mich gesagt?«
»Ach, nicht viel. Einmal äußerte er zu meinem Gatten so etwas wie:
Sie ist mir zugelaufen. Wie eine junge Katze. Und genau das ist sie auch, eine
Katze, aber eine ganz außergewöhnliche.«
»Das hat er gesagt?«
»Ich hatte das Gefühl, dass Sie ihn stark beeindruckten – und
dass er genau das nicht allzu offen zeigen wollte. Er wollte Sie für sich
gewinnen, auch das war mein Eindruck.« Helene legte ihren Kopf ein wenig
schräg. »Ich bleibe dabei: Er ist einfach unsicher, wie er sich Ihnen gegenüber
verhalten soll.«
»Ich weiß nicht einmal, was ich wirklich über ihn denke.«
»Also denken Sie über ihn nach?« Die Frage kam ganz leise, aber
Bernina ahnte, was hinter den einfachen Worten steckte.
»Nein, das tue ich nicht«, antwortete sie schließlich und gab sich
Mühe, überzeugend zu klingen.
»Sind Sie sicher, Bernina?«
»Bald werde ich nicht mehr hier sein, und dann …«
»Ach bitte, nicht das schon wieder«, wurde sie sofort
unterbrochen. »Nicht diese unausgegorenen Pläne. Fürs Erste bleiben Sie hier.
Es ist ja noch nicht einmal Frühling.«
Helene zog die Stirn in Falten, und Bernina gab sich schließlich
geschlagen.
Später musste sie noch lange über dieses Gespräch nachdenken. Auch
darüber, dass die Gräfin gesagt hatte, sie solle sich an den Oberst wenden,
wenn sie mehr über das Gemälde erfahren wollte.
Als sie spät am Abend des gleichen Tages noch einmal vor das
Kunstwerk trat, um die Erscheinung des kleinen Mädchens auf sich wirken zu
lassen, wurde sie erneut von einem ganz merkwürdigen Gefühl erfasst. Es gab
etwas in ihrem Leben, das sie nicht sah, nicht kannte, und das doch nahe bei
ihr war.
Die Tage schwankten zwischen sturer Kälte und erwachender
Frühlingswärme. Weiterhin wurden im Salon von Schloss Wasserhain Gesellschaften
abgehalten, zumeist eingeleitet von den zerbrechlichen Klängen des Spinetts. An
einem dieser Abende fand sich Bernina an der langen Tafel überraschenderweise
neben niemand anderem als Oberst Jakob von Falkenberg wieder.
Andererseits war sie auch nicht ganz so überrascht – von
Anfang an hatte sie den Eindruck, dass dieses Nebeneinandersitzen nicht
zufällig zustandegekommen war.
Dennoch blieb der Oberst während des ganzen Essens außerordentlich
zurückhaltend. Er schenkte Bernina Wein nach, richtete aber nicht das Wort an
sie. Wusste er wirklich nicht, wie er sich ihr gegenüber verhalten sollte?
Bernina hatte ihn bereits auf unterschiedlichste Weise erlebt: arrogant,
dreist, melancholisch, tollkühn bis selbstmörderisch. War das nun schon wieder
ein neuer Oberst? Einer, den sie am wenigsten erwartet hatte? Ein schüchterner
Falkenberg?
Und trotzdem musste man ihm eines lassen: Er blieb doch immer ganz
er selbst. Auch jetzt, wie er hier am Tisch saß und den Edelmann gab, der eloquent
zu plaudern verstand, sich aber auch als aufmerksamer Zuhörer geben konnte. Mit
Manieren und Witz, mit lächelndem Ausdruck auf seinem Gesicht, das nicht mehr
so hager war wie an jenem Abend, als Bernina ihn mit der Platzwunde in der
Bibliothek gesehen hatte. Offenbar hatte er in den letzten Wochen wieder mehr
gegessen, dafür weniger getrunken. Womöglich war er auch deswegen nicht mehr
mit schwankendem Schritt vor ihrer Zimmertür erschienen.
Der Abend schritt voran, der Oberst behielt sein Verhalten bei,
präsentierte sich für seine Verhältnisse ungewöhnlich zurückhaltend, und genau
diese Art war es, die Bernina reizte, die sie dazu brachte, ihn immer wieder
anzuschauen und ihn schließlich anzusprechen: »Wie ich hörte, haben Sie Angst
vor Katzen, Herr Oberst.«
Für einen kurzen Moment herrschte Stille, schienen sich viele
Augen auf Bernina zu legen. Dann erst wurden die Sätze weitergeführt, so leise
und gemächlich wie zuvor.
Zum ersten Mal an
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