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Das Geheimnis der Krähentochter

Das Geheimnis der Krähentochter

Titel: Das Geheimnis der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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Leben
erschließen.
    Bei einer dieser Gelegenheiten musste sie auf einmal intensiv an
Cornix denken. Sie sah die Hütte, ihre Schlafstelle darin, roch die Kräuter,
die Suppe, erblickte die Holzwände mit den eingeritzten Symbolen: Schwert und
Blume. Unwillkürlich kam ihr der Brief in den Sinn, der ebenfalls diese Zeichen
trug. So lange hatte sie nicht mehr an ihn gedacht. Noch immer befand er sich
in ihrem alten Kleid, das im Schrank ihres Zimmers hing.
    Soll ich Helene bitten ihn mir vorzulesen?,
fragte Bernina sich, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Es war ihr
peinlich. Nicht nur dass sie den Brief unberechtigt an sich genommen hatte,
auch dass sie nicht lesen konnte. Vor Melchert Poppel hatte ihr dieser Umstand
nichts ausgemacht, aber hier im Palast war das etwas ganz anderes. All die
gebildeten Leute um sie herum hatten ihr unbewusst gezeigt, wie viel sie
verpasst hatte. Womöglich bietet sich hier die Chance, mehr aus mir zu machen,
dachte sie weiter. Noch mehr zu entdecken, lesen zu lernen, etwas von der Welt
zu sehen, all das, was mir bislang immer verwehrt war.
    So vertieft war Bernina in ihre Gedanken, dass sie das leise
Geräusch der Türe und die behutsam gesetzten Schritte gar nicht wahrnahm. Es
war eher ein Gefühl, das ihren Blick von dem Gemälde wegzog, ein Gefühl, als
hätten sich fremde Blicke auf sie gelegt.
    Sie zuckte zusammen, als sie ihn bemerkte.
    »Ich habe Sie nicht gehört«, entschuldigte sie sich leise.
    Er entgegnete nichts, sah sie nur an, stand da, aufrecht, die Arme
lässig vor der Brust verschränkt, in seiner eleganten Kleidung und den doppelt
besohlten Korduanlederstiefeln. Aus ähnlich hochwertigem Leder war auch die
Manschette, die sein linkes Handgelenk umschloss. Sie war etwas, das längst
voll und ganz zu ihm gehörte und das Besondere seines Charakters noch mehr
hervorzuheben schien.
    Sie wechselten einen langen Blick. Bernina las in seinen Augen
das, was sie selbst fühlte – dass eine solche Situation, ein solches
Aufeinandertreffen längst überfällig war. Die Chance zu dem Gespräch, um das
der Oberst nicht herumkommen würde, war da. Bernina verschwendete keine Zeit.
    »Ich hätte schon lange mit Ihnen sprechen sollen, Herr Oberst«,
äußerte sie unvermittelt. »Ich habe es vor mir hergeschoben, und das ist für
gewöhnlich nicht meine Art.«
    Jakob von Falkenberg lächelte schmal. Doch
dieses Lächeln konnte vor Bernina nicht die Tatsache verbergen, dass er ihr
gegenüber nicht mehr ganz so selbstgewiss aufzutreten vermochte.
    »Und was haben Sie auf dem Herzen, Bernina?«
    Anders als früher betonte er ihren Namen. Aber davon ließ sie sich
nicht beirren. »Warum wollten Sie, dass ich hierherkomme?« Ihre Stimme klang
härter, als sie es beabsichtigt hatte. »Dass ich hierbleibe? Es war
Erpressung.«
    »Wenn Sie es so nennen möchten.« Er hörte sich nach wie vor recht
zurückhaltend an. Nur sein Lächeln blieb.
    »Und ob ich das so nenne. Sie zwangen mich, Sie bis zu diesem
Palast zu begleiten. Nur dann wollten Sie eine Suche nach Anselmo in die Wege
leiten.«
    Es war ein sonderbares Gefühl, Anselmos Namen an diesem Ort, im
Beisein des Obersts auszusprechen.
    »Meinetwegen.« Kurz senkte Falkenberg den Blick. »Dann war es eben
Erpressung. Aber Sie wissen doch genauso gut wie ich, weshalb ich darauf
bestand, dass Sie in meiner Nähe bleiben.«
    Bernina sagte nichts.
    »Oder?« Er kam noch ein wenig näher.
    »Ich verstehe Sie einfach nicht«, meinte sie dann. »Sie sind ein
einziges Rätsel für mich. Ich sah, dass Sie wie ein Selbstmörder in die
Schlacht ritten. Warum taten Sie das?«
    Falkenberg lachte auf, nur ganz leise. In diesem Moment hatte er
etwas Faszinierendes. Er wusste um seine Wirkung, und sie wollte sich gegen
diese Anziehung wehren. Allerdings war das nicht einfach.
    »Warum zogen Sie wie ein Selbstmörder in die Schlacht?«
    »Auch das wissen Sie.«
    »Ganz und gar nicht.«
    Diesmal senkte er seinen Blick nicht. Er trat näher auf sie zu,
löste die Arme von seiner Brust.
    »Ich hatte den Sinn des Lebens verloren. Ich hätte nichts dagegen
gehabt, im Gefecht zu sterben, endlich die Kugel zu fangen, die für mich
bestimmt war.« Im Grau seiner Augen verlor sich plötzlich dieses Stählerne.
Etwas Mildes, das sie so nie an ihm gesehen hatte, gewann die Oberhand. »Ich
wollte sterben, bis ich dich traf, Bernina. Spätestens in diesem Haus in
Kraubach wurde mir das klar. Da war ich mehr tot als lebendig, aber als ich
dich in der Tür

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