Das Geheimnis der Krähentochter
glaubte
Bernina wahrnehmen zu können.
Er riss sein Tier an den Zügeln auf die Hinterbeine, sodass es
sich fast senkrecht dem Aufruhr am Himmel entgegenstreckte. Bernina hörte das
Wiehern bis in ihr Zimmer. Wie erstarrt betrachtete sie den Fremden. Es war
kein Trugbild, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut.
Noch einmal brachte der Mann das Pferd dazu, sich wild
aufzubäumen. Dann galoppierte er davon, vorbei an den Birken, hinein in die
Nacht, die ihn mit Dunkelheit und Sturm umfing, mit der er verschmolz, als wäre
er ein Teil von ihr.
Kapitel 7
Die Augen des Bösen
Manchmal schien es, als würden die Zeichen ein Eigenleben führen.
Diese von schwarzer Tinte geformten Haken und Linien und Bögen, diese scharfen
Striche, in denen geradezu etwas Verzweifeltes aufzuschimmern schien.
Merkwürdig, aber es war, als wären sie nicht starr, sondern beweglich. Je öfter
Bernina darauf blickte, desto mehr hatte sie das verwirrende Gefühl, die
Buchstaben würden von Zeit zu Zeit die Gestalt von Krähen annehmen, mit den
Flügeln schlagen und über das gelblich gewordene Papier ziehen wie ein
Vogelschwarm am Himmel.
Mit dem Finger fuhr Bernina über die Buchstaben des gestohlenen
Briefes, wie sie früher so oft die Skizze des kleinen Mädchens berührt hatte.
Diese Zeichen, tot und voller Leben zugleich, wie ein von Stahl verriegeltes
Tor vor Berninas Augen, rätselhaft, scheinbar unüberwindlich für sie. Und doch
spürte sie, dass da etwas war in diesen Zeilen, etwas, das mit ihr zu tun
hatte. Es lag weniger an den Buchstaben an sich, als viel mehr an den beiden
Symbolen, die wenig akkurat und trotzdem auf den ersten Blick erkennbar über
die Buchstaben gemalt worden waren: ein Schwert, dessen Spitze auf eine Blume
wies.
So wie in dem rätselhaften Zimmer auf dem Petersthal-Hof, mit
Sorgfalt und Geschick ins Holz einer Truhe geritzt.
Von dem Brief, den sie in einer turbulenten
Nacht in einem Dorf namens Kraubach an sich genommen hatte, blickte sie dann
meist in einer seltsam melancholischen Stimmung aus ihrem Fenster nach draußen
in die Welt, die sich verändert hatte. Der Frühling war gekommen und schon
wieder vorüber, die Parkanlagen von Schloss Wasserhain leuchteten mittlerweile
in vielen Farben. Die Rosen, die Oleanderbüsche und die grünen, penibel
geschnittenen Hecken ließen das Grau der letzten Winterwochen vergessen, den
Schneematsch, die Winde, die Kälte.
Der Brief war Berninas Geheimnis geblieben, obwohl sie immer
wieder versucht gewesen war, ihn Gräfin Helene zu offenbaren und sie darum zu
bitten, ihn ihr vorzulesen. Bernina hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, ihn
dem Oberst zurückzugeben und zu beichten, dass sie ihm das Schreiben in einem
verrückten, gedankenlosen Moment entwendet hatte.
Doch jedes Mal war sie davor zurückgeschreckt. Der Brief war das
Einzige, was Bernina je in ihrem Leben gestohlen hatte. Es war nicht richtig
gewesen, es passte nicht zu ihr, und es machte ihr zu schaffen.
Eine andere Sache allerdings, die Bernina ebenfalls peinlich war,
hatte sie Helene nach langem Zögern doch noch anvertraut: dass sie weder lesen
noch schreiben konnte. Die Gräfin reagierte nicht sonderlich überrascht
angesichts dieser Erklärung – sie kannte Berninas Geschichte, also hatte
sie wohl ohnehin damit gerechnet. Und kurz entschlossen, wie Helene sich immer
zeigte, bot sie Bernina an, ihr beides beizubringen.
Bernina war glücklich. Mehr als das. Seit sie den Schwarzwald
verlassen hatte, war sie mit so Vielem vertraut geworden, woran sie früher
keinen Gedanken verschwendet hätte. Wenn sie jetzt noch an ihrer Bildung
arbeiten konnte, freute sie sich. An den Brief mit Schwert und Blume dachte sie
dabei nicht. Jedenfalls redete sie sich das ein.
In der Bibliothek fand der Unterricht statt,
von Freundin zu Freundin. Es war das Alphabet, das auf Bernina wartete, die
schön geschwungenen Buchstaben, die wie verzwirbelte Muster auf der Kleidung
von reichen Menschen auf sie wirkten, erhaben und kunstvoll. Bernina erschloss
sich wieder einmal eine neue Welt.
Sie war voller Ungeduld. Am liebsten hätte sie das gesamte
Alphabet auf einmal gelernt, nach allen Büchern, die sich im Raum befanden,
zugleich gegriffen. Helene amüsierte sich darüber. »Lass dir Zeit«, bat die
Gräfin oft, dabei längst zum zwanglosen du übergehend, so vertraut waren sie
miteinander geworden. »Bernina, du hast doch alle Zeit dieser Welt.«
Habe ich die wirklich?, fragte sich Bernina insgeheim.
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