Das Geheimnis der Krähentochter
wurde. Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, wie die
Kämpfer, nachdem sie den Schuss aus ihrer Muskete abgefeuert hatten, zum
Nahkampf übergingen, wie das Stechen und Schlagen sich immer mehr ausweitete.
Bernina tauchte in einer weiteren engen Gasse unter. In ihrer Nase
meinte sie Schweiß und Blut der Soldaten riechen zu können, so nahe war sie dem
erbarmungslosen Töten gekommen. Sie überwand eine weitere Kreuzung und sah am
Ende der vor ihr liegenden Straße das Haus und den Schuppen, in dem sie sich
von den Gauklern getrennt hatte.
Doch erneut erwartete sie ein Anblick, der sie geradezu lähmte.
Beide Gebäude standen in Flammen, die bereits auf die Nachbarbauten übergingen.
Offenbar hatte das Schicksal genau an diese Stelle Ippenheims gleich mehrere
Kanonenkugeln geweht. Um ihr Leben laufende Menschen. Das Dach des Schuppens
stürzte unter der Gewalt des Feuers ein.
Ein Mann rannte an Bernina vorbei, auf dessen Rücken Flammen
züngelten. Ungeachtet der Gefahr lief sie weiter, auf den Schuppen zu, in der
bangen Erwartung, die brennenden Leichen ihrer Freunde vorzufinden.
Rasch jedoch wurde klar, dass sich in dem Bretterverschlag keine
Menschen mehr aufgehalten hatten. Offenbar waren die Gaukler schon vor dem
Einsturz des Daches geflohen, gemeinsam mit den anderen Leuten, die in dieser
Straße wohnten und Schutz gesucht hatten.
Hilflos stand Bernina da, ratlos warf sie Blicke in alle
Richtungen, aber ein vertrautes Gesicht war nicht auszumachen. Die Feuer
weiteten sich aus, und Bernina verharrte weiterhin vor den Trümmern des
Schuppens, so allein wie niemals vorher in ihrem Leben. Sie wusste weder ein
noch aus, machte einen Schritt in diese, dann einen in die andere Richtung.
Mittlerweile war außer ihr kein Mensch mehr auf der Straße, über der sich der
Rauch ballte.
Und jetzt? hämmerte es in Berninas Kopf. Wohin?
Hoffnungslos blickte sie an der Zeile kleiner Häuser entlang, und
wie schon einmal an diesem grauenhaften Tag hörte sie die Stimme der
Krähenfrau: Der Weg, der zum Teufel führt.
Plötzlich war da noch eine andere Stimme, eine männliche. Jemand
rief ihr etwas zu.
Bernina drehte sich um und erblickte einen Mann in einfacher,
schmutziger, von Schweiß getränkter Kleidung. Er hatte eine Glatze, nur um
seine Ohren kräuselten sich grau durchsetzte Locken.
»Folge mir, Kleine, ich bringe dich in Sicherheit.«
Verzweifelt sah sie ihn an. War ihm zu trauen?
»Na los«, drängte er. »Wenn dich Soldaten in die Hände kriegen,
ergeht’s dir verdammt schlecht.«
Noch immer unentschlossen verharrte Bernina auf der Stelle.
Im Rücken des Mannes tauchte ein kleiner Junge auf, der ihm
zurief: »Komm, Vater, worauf wartest du denn noch?«
Der Mann winkte Bernina noch einmal zu, und diesmal reagierte sie.
Mit schnellen Schritten überwand sie die Straße und folgte ihm und seinem Sohn.
Es ging zwischen eng stehenden Häusern hindurch in einen Hinterhof und von dort
in einen Schuppen, der jenem nicht unähnlich war, in dem sie mit den Gauklern
Unterschlupf gefunden hatte.
Der Mann schob zwei große Heuballen beiseite und offenbarte so ein
kleines, ins Erdreich gegrabenes Loch. Flink schlüpfte der Junge hinein. Die starken,
von lebenslanger Arbeit schwielig gewordenen Finger seines Vaters ergriffen
Berninas schmale Hand und schoben sie entschlossen hinter dem Jungen durch die
Öffnung. Dann tauchte der Mann selbst in dieses Versteck ab, nicht ohne es
wieder mit dem Heu abzudecken.
Ein Gang, mühsam gegraben mit Schaufeln, nach unten führend, sehr
eng und so niedrig, dass Bernina sich tief ducken musste. Mit kurzen Schritten
folgte sie dem Jungen, bis sich der Gang weitete und zu einer kleinen Höhle
wurde.
Das Licht von einer einzigen Kerze strahlte gespenstisch die
Gesichter der Leute an, die hier beisammenhockten. Nur durch den von Heu
geschützten Eingang drang ein wenig frische Luft bis hierher, die aber sogleich
von den Menschen verschluckt wurde. Es roch nach Schweiß, nach Urin, auch nach
geräucherten Würsten, von denen zahlreiche mit einem Laib Brot in einem
Holztrog als Vorrat gesammelt worden waren. Außerdem waren ein paar Kübel mit
Trinkwasser da.
Etwa zwei Familien hatten sich in dieses Versteck zurückgezogen.
Der kleine Junge setzte sich und schmiegte sich dabei dicht an
eine Frau, offenbar seine Mutter. »Wer bist du?«, wollte er neugierig von
Bernina wissen.
Etwas eingeschüchtert nannte sie ihren Namen.
»Sie war schutzlos da oben«, erklärte nun der Mann mit
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