Das Geheimnis der Krähentochter
die durch die plötzlich vollkommene Dunkelheit geisterte.
Eine Dunkelheit, die von jetzt an alles unter der Erde im Griff
hatte, so wie die Stille die Stadt über ihren Köpfen beherrschte.
Einige waren eingeschlafen, wie leises Schnarchen bewies, das aus
der einen oder anderen Ecke zu Bernina drang. Ihr dagegen war, als würde sie
nie wieder ein Auge zumachen können. Doch sie täuschte sich, denn schon bald
wand sie sich in wirren Träumen.
Als sie wieder aufwachte, war ihr gleichzeitig heiß und kalt. Auf
ihrer Stirn stand Schweiß. Einige konfuse Momente lang rätselte sie, wo sie
war, dann nahm sie unangenehme menschliche Gerüche und den rohen Duft der
aufgewühlten Erde wahr.
Es war keine Kerze entzündet worden, doch durch den Gang
schimmerte etwas Helligkeit hinein. Offenbar hatte der neue Tag bereits
begonnen. Von oben drang kein Laut. Die Schlacht war nicht wieder aufgenommen
worden. »Vielleicht ist ja schon alles vorbei«, hoffte Johann Brunner.
Bernina streckte sich, ließ das Blut durch ihre steifen Arme und
Beine pulsieren.
Die anderen waren ebenfalls wach und begrüßten sie nun mit einem
zurückhaltenden »Guten Morgen«. Danach wurde kaum gesprochen. Jeder erhielt
etwas Wasser. Nicht nur zum Trinken, auch um sich das Gesicht zu befeuchten. Es
gab von den Räucherwürsten zu essen. Brunner zerschnitt einen Laib Brot und
verteilte die Scheiben.
Erst nach ein paar Bissen wurde Bernina bewusst, wie hungrig sie
war, und sie aß mit großem Appetit, sogar mit Genuss.
Nach dem Frühstück beschlossen die Brunners und die Übrigen, noch
länger in ihrem Versteck auszuhalten, selbst wenn es weiterhin ruhig bleiben
würde, notfalls so lange, bis ihre kargen Vorräte aufgebraucht wären.
Doch Bernina erkannte sofort, dass sie das nicht über sich bringen
würde. Sie musste sich Gewissheit verschaffen, was mit Anselmo und den anderen
ihrer Gruppe geschehen war. Wie schrecklich die Wahrheit auch immer aussehen
mochte.
Was sie vorhatte, teilte sie den anderen mit, und als sie sich
erhob, lagen alle Blicke auf ihr. Diesmal widersprach man ihr nicht. Offenbar
war ihr die Entschlossenheit deutlich ins Gesicht geschrieben. Noch einmal
bedankte sie sich bei den Brunners für ihre selbstlose Hilfe.
»Wir einfachen Leute müssen doch zusammenhalten«, meinte Frau
Brunner mit einem traurigen Lächeln.
Ihr Mann begleitete Bernina, nicht ohne ihr noch einmal Warnungen
mit auf den Weg zu geben. Sie solle vorsichtig sein, niemandem trauen. Als sie
sich hintereinander durch das enge Loch aus der Erde in den Schuppen zwängten,
war die Luft wie eine Erlösung für Bernina.
Auch Brunner atmete ganz tief ein. »Vergiss nicht unseren
Unterschlupf. Hier ist für dich noch ein Plätzchen frei und zur Not auch für
deinen Mann.«
Sie konnte nicht anders, als ihn zu umarmen. »Ich weiß gar nicht,
wie ich mich bedanken soll für alles.«
»Indem du am Leben bleibst und deinen Mann findest.«
Es tat so gut, wenn er von ihrem Mann sprach. Dann trennten sich
ihre Wege. Der gutherzige Brunner ließ sich erneut vom Erdreich verschlucken,
während Bernina vor den Schuppen trat. Sie wurde von grellem Sonnenlicht
empfangen und schützte ihre Augen mit der Hand.
Dann lief sie los. Gestärkt von dem Essen, aber mit wehem Herzen.
*
Vorsichtig bewegte sie sich durch die Straßen, in denen sie allein
war, in denen sich ansonsten alles in tödlicher Starre präsentierte. Nur sie
und die Krähen, die sie mit wachsamen Augen maßen, glänzend das Gefieder im
Schein der Sonne. Immer mehr von ihnen zerteilten mit ausgebreiteten Schwingen
die Luft, nur wenige Meter über dem Kopfsteinpflaster, angezogen von dem
Gestank, den die Leichen verströmten.
Bernina zwang sich, über die im Augenblick des Todes
niedergesunkenen Männer hinwegzublicken, was gar nicht so einfach war. Die in
einem letzten Seufzer verkrampften Gesichter schienen ihren Blick regelrecht zu
suchen, als läge es in Berninas Macht, all die Getöteten ins Leben
zurückzuholen.
Hier und da schwelten noch Flammen, quoll
noch Rauch aus den Trümmern. Einmal huschte eine gefleckte Katze über Berninas
Weg, aber kein Mensch war zu sehen, jedenfalls kein lebender. Bernina ließ die
Straße mit dem zerstörten Schuppen hinter sich, in dem sie zum letzten Mal mit
Anselmo allein gewesen war.
Immer im Schutz der Häuserzeilen bewegte sie sich durch die Stadt.
Die Gedanken im Zaum zu halten, fiel ihr nicht leicht. Immer wieder musste sie
an Rosa denken, die gesagt
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