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Das Geheimnis der Krähentochter

Das Geheimnis der Krähentochter

Titel: Das Geheimnis der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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war es der letzte Rest Sonnenlicht, der durch die großen Rundfenster quoll, vielleicht das laute
Scheppern der silbernen Trinkgefäße, die mit raschen entschlossenen
Handbewegungen von der Tafel auf den Boden befördert wurden. Vielleicht war es
auch der Schmerz, der Bernina wieder aufschrecken ließ, dieser Schmerz, der in
ihrem Rücken aufwallte, als man sie roh auf den zuvor frei gemachten Tisch
krachen ließ. Vielleicht war es aber einfach nur ihre nackte Angst. Eine Hand
hatte schon ihr Kleid gepackt, oberhalb ihrer Brüste, um den Stoff zu
zerreißen. Ihre Blicke hasteten von einem lüsternen und brutalen Gesicht zum
nächsten. Da ertönte diese Stimme.
    Nicht einmal besonders laut war sie zu hören, nicht einmal
auffallend kraftvoll oder herrisch. Es war eher deren Gelassenheit, die alles
um Bernina herum zum Stillstand brachte. Womöglich brachte sie wieder Klarheit
in ihr Bewusstsein.
    »Schluss damit!« Mehr Worte waren nicht nötig.
    Die Hände lösten sich von Bernina, die Soldaten wichen einen
Schritt zurück, weg von dem Tisch, auf dem sie lag.
    »Langsam geht es sogar mir auf die Nerven«, sprach die Stimme
weiter, »wie ihr euch aufführt. Vor allem wenn man bedenkt, dass es jede Minute
zum Angriff kommen kann.« Nach wie vor diese Ruhe, diese Gleichmäßigkeit in der
Betonung.
    »Eben deshalb«, kamen nun ein paar zurückhaltend klingende
Widerworte von einem der Soldaten. »Herr Oberst, wir dachten, das ist
vielleicht die letzte Gelegenheit, ein wenig Spaß zu haben, bevor wir alle ins
Gras beißen müssen.«
    »Ein wenig Spaß?«, wiederholte die Stimme voller Verachtung.
»Lasst das Mädchen in Ruhe. Befreit auch den armen Teufel vor dem Haus endlich
von seinen Fesseln und bringt ihn zu den anderen Gefangenen. Ihr seid schlimmer
geworden als Barbaren der Vorzeit.«
    »Zu Befehl, Herr Oberst. Ich werde mich
darum kümmern.«
    »Das will ich hoffen. Und ab jetzt kein Bier und kein Wein mehr
für die Männer. Das gilt für alle. Ein wenig Mut antrinken ist ja in Ordnung.
Aber mit einem Haufen reiner Trunkenbolde werden wir die Stadt kaum halten
können.«
    Die Stiefelabsätze der Soldaten hämmerten laut auf dem Steinboden,
als sie sich nun aus dem Zimmer zurückzogen.
    Langsam, immer noch zitternd, richtete sich Bernina auf. Ihre
Gedanken galten allerdings nicht ihr selbst, sondern Anselmo. Er ist gerettet,
dachte sie, während ihr Blick durch den mit Wandteppichen, Fenstervorhängen aus
Samt und schweren Lüstern verschönerten Raum streifte. Dann blickte sie
unwillkürlich auf die Gestalt, die kerzengerade, völlig regungslos neben der
Tür stand. Auf den Mann, der mit so ruhiger Stimme ihr Unheil innerhalb von
Momenten beendet hatte. Ihr Blick folgte ihm, wie er nun in die Knie ging, um
etwas vom Boden aufzuheben, das er sich, halb von Bernina abgewandt, eine Weile
ansah. Kühl sagte er: »Du hast etwas verloren.«
    Er drehte sich zu ihr herum und reichte ihr die Zeichnung mit dem
kleinen Mädchen, die aus dem Zimmer im Petersthal-Hof stammte. Offenbar war
Bernina das Papier aus dem Kleid gerutscht, als man sie so brutal auf die
Tischplatte geworfen hatte. Sie nahm die Skizze entgegen und verstaute sie.
    »Danke«, flüsterte sie.
    Er erwiderte nichts, betrachtete sie nur eingehend.
    Gegen ihren Willen ließ Bernina sich von seiner Erscheinung
beeindrucken. Nicht nur von seiner aufrechten Haltung, auch von seiner
Kleidung. So sauber die schwarzen Stulpenstiefel, so strahlend weiß der breite,
flach aufliegende Kragen aus feinster Spitze, so elegant die mit Stickereien
großzügig verzierten Stoffe, die seine schlanke Gestalt umhüllten. Sehr viel
Samt, sehr dunkle Farben, abgesehen von ein paar roten Tupfern. Auffallend groß
der Hut, geschmückt von einer langen weißen Feder, die über der breiten
ausladenden Krempe wippte.
    Weniger elegant an ihm war allein die abgewetzte lederne Scheide,
in der an seiner Seite der Degen baumelte.
    Jung war er, viel jünger als der Ton seiner Stimme hatte vermuten
lassen, jünger als Bernina sich einen Oberst vorgestellt hätte. Er war wohl nur
fünf oder sechs Jahr älter als sie, blond sein Haar, jedoch von einem helleren
Ton als ihres. Und diese grauen Augen. Hellwach wirkten sie, ernst und
konzentriert. Ihr Glanz ließ den Tatendrang des Mannes erkennen. Nur ein paar
verschwindend dünne rote Adern zeigten, dass er unter Anspannung stand und in letzter
Zeit sicherlich wenig Schlaf bekommen hatte. Und nach wie vor äußerte er kein
Wort. Bernina schob

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