Das Geheimnis der Krähentochter
hellblaue Kleid stimmte
überein. Es war das Mädchen, das sie an jenem Morgen gesehen hatte, als das
Grauen über den Petersthal-Hof gebracht worden war. Gesehen in ihrer
Einbildung – oder doch wahrhaftig erblickt. Sie wusste es weniger denn je.
Noch einen kleinen Schritt näher kam sie dem Bildnis. Ehrfürchtig
ließ sie ihre Fingerspitzen über die trockenen, von einer dünnen Staubschicht
bedeckten Farben gleiten. Ein kalter Schauer auf ihrem Rücken. Sie zog die
Zeichnung hervor, die sie nun schon so lange bei sich trug, und verglich die
schwarzen Striche auf dem Papier mit dem, was sich in Hellblau und Gold mit dem
dunklen Hintergrund aus Bäumen vor ihr entfaltete. Tief atmete Bernina ein,
während sie abwechselnd von einem gezeichneten Mädchen zum anderen blickte.
Verständnislos, völlig verwirrt schüttelte sie den Kopf, um die Skizze dann
wieder im Stoff ihres Kleides verschwinden zu lassen. Die Zeichnung schien in
der Tat die Vorstufe dieses Kunstwerks zu sein.
Aber das war es nicht, was auf Bernina so intensiv, so
eindringlich wirkte. Auch nicht, dass alles wieder gegenwärtig war, die Bilder
jenes furchtbaren Morgens im Schwarzwald. Denn da war noch irgendetwas in ihr,
irgendetwas, das tief aus ihrem Gedächtnis kam, genau in jenem Moment, als ihr
Blick auf das Gemälde gefallen war. Sie fühlte eine Erinnerung in sich
aufsteigen. Eine Wahrnehmung aus einer anderen Zeit, die irgendwo in ihr
versteckt war. Wie schon einmal, an einem lange zurückliegenden Tag in der
Hütte der Krähenfrau, spürte Bernina die Berührung einer merkwürdig
schemenhaften Vergangenheit.
Und im nächsten Augenblick wurde die Welt zerfetzt von einem
Krachen, das lauter war, als alles, was sie jemals gehört hatte. Die Erde unter
ihr erbebte, ebenfalls die Wände, die Decke, auch das Gemälde mit dem blonden
Mädchen, das in seinem hellblauen Kleid plötzlich zum Leben erweckt zu sein
schien. Ein neuerliches Stakkato aus Kanonenschüssen setzte ein, und irgendwo
im Haus gab es einen unbändig lauten Einschlag. Bernina begann zu laufen.
*
Riesige Qualmwolken hingen über den Dächern der Stadt. Flammen
schossen in den Himmel, an dem sich ein marmornes Muster aus hell und dunkel, aus
verschwindendem Tag und einsetzendem Abend bildete. Die Luft roch nach
Schießpulver und Angst und wälzte sich als schwere dumpfe Masse durch die
Straßen. Überall Lärm, ein bedrohliches Brodeln, durchsetzt von Schüssen und
verzweifelten Schreien und dem Zischen und Fauchen etlicher entstandener
Brandherde.
Die Schlacht hatte begonnen. Der lange erwartete, dann fast ebenso
lange als unwahrscheinlich betrachtete Angriff Arnim von der Taubers und seines
Gefolges war in vollem Gange.
Bernina spürte jeden Herzschlag, jeden Tropfen Blut, das durch
ihren Körper pulsierte, nahm alles in sich und um sich herum mit
überwältigender, beängstigender Deutlichkeit wahr. Und gleichzeitig sah sie
noch immer Anselmos gequälten Gesichtsausdruck vor sich.
Sie erreichte den Ausgang einer Gasse, die in den Platz vor dem
Rathaus mündete, in dem angeblich die Gefangenen vorerst untergebracht worden
waren. Doch schon von hier sah sie, dass die Suche nach ihrem Geliebten sinnlos
war. Zumindest jetzt.
Vor dem zweigeteilten Portal des Gebäudes tobten die Kämpfe
besonders heftig. Freund und Feind waren kaum voneinander zu unterscheiden. Die
Anhänger Arnim von der Taubers waren ebenso bunt gekleidet wie die Truppen, die
Ippenheim zu schützen versuchten. Degen und Kurzschwerter krachten aufeinander,
Schüsse fielen, Schmerzensschreie ertönten.
Bernina sah Tote seltsam verrenkt auf dem Kopfsteinpflaster
liegen, Verletzte, die aus mehreren Wunden bluteten, langsam hinwegdämmerten
oder sich auf den letzten Atemzug vorbereiteten. Nur wenige Meter vor ihr
wankte ein Soldat, dem ein Klingenschlag den Unterarm zur Hälfte abgetrennt
hatte. Wie gelähmt sah sie einen scheinbar endlos langen Moment zu, wie er
röchelnd in die Knie sank und dann zur Seite kippte.
Endlich gelang es ihr, sich vom Schock all dieser Anblicke zu
lösen. Sie machte ein paar Schritte rückwärts, drehte sich dann um, ließ das
grausige Geschehen hinter sich und rannte wiederum die schmale Gasse hinab, bis
sie zu einer Kreuzung kam.
Hier orientierte sie sich kurz, lief schon wieder weiter und hörte
erneut Kanonenkugeln in ihrer Nähe einschlagen. Rennend gelangte sie zum
Marktplatz, der, zuvor noch menschenleer, jetzt ebenfalls von miteinander
ringenden Soldaten gefüllt
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