Das Geheimnis der Krähentochter
stieß der
Junge leise hervor.
»Ganz in Schwarz gekleidet?« fragte Bernina
nach. »Und Augen, die eiskalt sind? Dieser Mann und seine Meute haben den Hof
vernichtet, auf dem ich aufgewachsen bin.«
Bedauernde Blicke trafen sie.
»Was ist das für ein Mann?«, wollte Bernina wissen.
»Ein Geisterreiter. Niemand kennt seinen Namen«, erwiderte
Brunner. »Man hört nur, dass er von durchaus angesehener Herkunft sein muss.
Und dass es besser ist, seinen Weg nicht zu kreuzen.«
»Was war das für ein Hof?«, fragte seine Frau an Bernina gewandt.
»Der Hof, auf dem Sie groß geworden sind?«
»Ach, ganz bestimmt haben Sie seinen Namen nie gehört. Er lag tief
im Schwarzwald. Der Petersthal-Hof.«
Die Leute tauschten einige verdutzte Blicke.
»Petersthal-Hof?«, wiederholte Brunner. »Gewiss ist uns dieser
Name nicht fremd.«
»Tatsächlich? Das wundert mich. In welchem Zusammenhang haben Sie
von ihm gehört?« Beiläufig erinnerte sich Bernina an Cornix’ merkwürdige
Warnungen, den Petersthal-Hof nicht zu erwähnen.
»Früher sollen dort ja recht sonderbare Dinge geschehen sein.«
»Was für Dinge?«, staunte Bernina.
»Das weiß ich auch nicht genau. Es ist wirklich schon sehr viele
Jahre her. Die Leute erzählten sich, dass man besser einen Bogen um diesen Hof
machen sollte und …«
»Man muss nicht allzu viel auf solches Geschwätz geben«, schnitt
ihm seine Frau das Wort ab. »Manche reimen sich einfach irgendeinen Unsinn
zusammen. Wir haben nie jemanden getroffen, der den Hof wirklich kannte.«
Bernina merkte, dass die Frau das Thema beenden wollte, und
stellte keine weiteren Fragen. So wenig konkret das Gesagte auch gewesen
war – es verfehlte keineswegs seine Wirkung auf sie. Wieder einmal wurde
ihr bewusst, dass der Petersthal-Hof etwas Geheimnisvolles in sich trug, von
dem sie in all den Jahren nichts geahnt hatte.
Die Leute in der Erdhöhle unterhielten sich mittlerweile leise
miteinander, stellten Mutmaßungen über das Schicksal von Verwandten an, die
keinen solchen Unterschlupf hatten, aber Bernina hörte kaum zu. Ihre Gedanken
sprangen von dem mysteriösen Reiter zurück zu Anselmo, und die Sorgen um ihn
drückten so schwer auf ihr Herz, dass ihre Brust schmerzte.
Nach einiger Zeit, die Gespräche hörten wieder auf, die Kämpfe
gingen weiter, drängte sich auch der junge Oberst mit dem blonden Haar in Berninas
Gedanken. Wiederum fühlte sie Zorn in sich wachsen, auf diesen Mann, auf die
Art, wie er sich gegeben hatte. Doch da war noch etwas anderes. So eigenartig
es ihr auch erschien, aber auf einmal, hier und jetzt, aus der Erinnerung
heraus, hatte sie den Eindruck, als würde ihr irgendetwas an diesem Mann
bekannt vorkommen. Nur was?
Sie rief sich sein Gesicht genau ins
Gedächtnis. Hatte sie ihn schon einmal gesehen? Nein, mit Sicherheit nicht. Was
war es dann, was ihn ihr auf verrückte Art vertraut zu machen schien?
Irgendwann, Berninas Zeitgefühl hatte sie längst im Stich
gelassen, verebbten die Wogen der Schlacht über ihren Köpfen in einer sich
schnell ausbreitenden Stille. Beinahe schien es, als hätte die Welt aufgehört
zu bestehen.
Einige Minuten verstrichen. Dann hielt Bernina es nicht mehr aus
und richtete sich auf.
»Was ist?«, fragte Johann Brunner. »Was hast du vor?«
»Das Kämpfen hat aufgehört«, entgegnete sie rasch, in Gedanken
schon wieder bei Anselmo. »Ich muss nach oben, ich muss meinen Mann suchen.« Es
fiel ihr auf, dass sie ihn zum ersten Mal ihren Mann nannte.
»Das kannst du ja auch tun«, sagte Brunner in beruhigendem
Tonfall. »Aber warte noch ein wenig. Jetzt ist es längst Nacht. Du hättest
keine Chance, jemanden da oben zu finden. Und wer weiß, ob nicht doch noch hier
und da gekämpft wird.«
»Warte noch«, stimmte seine Frau zu. »Wenigstens bis zum
Sonnenaufgang.«
Widerstrebend setzte sich Bernina wieder hin. »Vielleicht haben
Sie ja recht.«
Die Ruhe wurde einnehmender, die Luft dünner. Brunner fasste den
Entschluss, sich zurück durch den Gang zu schleichen, um das Heu von der
Öffnung zu entfernen – oder es zumindest etwas durchlässiger zu machen,
damit frische Luft hereinströmen konnte.
Danach fiel das Atmen allen tatsächlich leichter, jeder füllte
seine Lungen. Auch mit ein wenig neuer Hoffnung darauf, dass dieses allzu
notdürftige Versteck tatsächlich ihr Lebensretter sein konnte.
Kurze Zeit später blies Frau Brunner die
Kerze aus. »Wir haben nicht mehr viele davon«, erklärte sie mit flüsternder
Stimme,
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