Das Geheimnis der Krähentochter
sich
kaum nach den Gefangenen im Rathaus erkundigt. Oder irre ich mich?«
Der Mann war ihr irgendwie sympathisch. Sie mochte seine
Förmlichkeit, seine Art, ihr mit Respekt zu begegnen, obwohl sie nur eine Magd
war.
»Nein, Sie irren sich nicht«, antwortete sie. Und dann begann sie
zu erzählen, ganz einfach so, mit einer plötzlichen Erleichterung, alles
aussprechen zu können. Sie berichtete von Anselmo und ihrer ersten Begegnung im
Schwarzwald, von den Gauklern, vom Seiltanz, von klatschenden Zuschauern in den
Dörfern und von einem Leben, in das sie sich so rasch eingefügt, in dem sie
sich so wohlgefühlt hatte. Nur von Rosa erwähnte sie kein Wort – und schon
gar nicht von deren düsteren Behauptungen.
Weiterhin auf respektvolle Weise erkundigte sich der Mann, wie
Anselmo in Schwierigkeiten geraten sei, und so gab sie ihm das Wenige weiter,
das sie darüber in Erfahrung gebracht hatte.
Er war nicht sonderlich überrascht, sondern schien schon häufiger
derartige Geschichten gehört zu haben. »Der Krieg bringt immer das Böseste im
Menschen zum Vorschein. Je länger er dauert und je heftiger er geführt wird,
desto schlimmer wird es.«
Erneut drehte Bernina sich um. Diesmal um durch den Schlitz, den
die Plane offen ließ, ins Wageninnere zu spähen. Doch sie erkannte nicht viel.
Natürlich bemerkte er das. »Verzeihen Sie bitte, ich hätte mich
wenigstens einmal vorstellen können. Sie sehen, der Krieg bringt sogar in mir
Böses zum Vorschein und lässt mich die guten Sitten vergessen.«
Bernina lächelte ihn an, amüsiert von seiner Mischung aus Ironie
und Höflichkeit. »Wer Sie sind, würde mich in der Tat interessieren.«
Er lüftete kurz seinen Hut und neigte den Kopf. »Melchert Poppel.
Zu Ihren Diensten, junge Dame.«
»Ich bin gewiss keine Dame, Herr Poppel.« Erneut lächelte sie.
»Bloß eine Magd.«
»Da bin ich mir nicht so sicher«, widersprach er mit sanfter
Stimme. »Eine Dame ist man von innen heraus. Es kommt nicht darauf an, welche
Stellung man bekleidet.«
Bernina musterte ihn weiterhin amüsiert von der Seite. »Und welche
Stellung nehmen Sie ein, wenn ich fragen darf?«
»Sie dürfen.« Auch Poppel lächelte. »Oberst von Falkenberg nennt
mich für gewöhnlich einen Knochenschneider. Aber es gibt noch wesentlich
respektlosere Bezeichnungen für das, was ich tue.«
»Sie sind Arzt?«
»Ein Feldarzt, und das schon seit etlichen Jahren. Ich habe mehr
Arme und Beine in den Händen gehalten als der liebe Gott. Und ich habe mehr
Menschen sterben sehen als der Teufel.«
»Furchtbar, was Sie erlebt haben müssen.«
»So furchtbar, dass man es gar nicht mit Worten beschreiben kann.
Oft dachte ich, ich könnte das alles einfach nicht mehr ertragen. Mehr als
einmal wollte ich nur noch auf ein Pferd springen und davonpreschen, irgendwohin,
wo kein Krieg herrscht. Aber ich hätte wohl bis auf den Mond reiten müssen.«
»Eines Tages wird es anders sein«, versuchte Bernina überzeugter
zu klingen, als sie in Wirklichkeit war. »Eines Tages wird Frieden sein.«
»Solange der Krieg genährt wird, überlebt er. Genährt mit Männern,
die ihn vorantreiben, die ihn für ihre Karriere nutzen wollen. Männern wie
unserem Oberst etwa.«
»Er kam mir sehr jung vor für einen Oberst«, erwiderte Bernina
spontan.
»In der Tat, mit 26 ist Jakob von Falkenberg nicht gerade alt für
seinen Rang. Der jüngste Oberst der kaiserlichen Armeen. Und wahrscheinlich
gibt es auch in den Reihen der Feinde keinen, der jünger ist.«
»Wie lange kennen Sie ihn schon?«
»Ich fahre seit mehreren Jahren mit seiner Streitmacht und habe
ihn selbst bereits einige Male unter meinem Messer gehabt. Von ihm gehört habe
ich aber schon wesentlich früher.«
»Was ist Falkenberg für ein Mensch?«, fragte sie weiter, und die
Neugier für den Oberst, die gerade in ihr zu erwachen schien, ärgerte sie
beinahe ein wenig.
Melchert Poppel seufzte. »Was für ein Mensch er ist? Das habe ich
mich auch schon öfter gefragt. Manchmal wirkt er wie ein Ehrgeizling, dem es zu
langweilig wird, wenn ihm nicht ein paar Kugeln um die Ohren fliegen. Dann aber
wieder scheint er etwas sehr Nachdenkliches an sich zu haben. Als würde er über
etwas brüten.«
»Das überrascht mich. Einen nachdenklichen Eindruck hat er nicht
unbedingt auf mich gemacht.«
»Das mag schon sein.« Poppel lachte leise. »Nun ja, wie gesagt, er
ist nicht so leicht zu durchschauen. Seine Karriere ist jedenfalls überaus
beeindruckend. Er stammt aus
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