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Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Titel: Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dryas Verlag
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morgens erhielt ich eine ­telegraphische Nachricht von meiner lieben alten ­Freundin und Schul­leiterin, Mrs Vincent, die besagte, dass sie im Sterben liege und ich unverzüglich zu ihr kommen müsse, wollte ich sie noch einmal lebend wiedersehen. In der ­telegraphischen Depesche war keine Adresse angegeben, und gerade aus diesem Umstand schloss ich, dass sie noch in jenem Haus leben müsse, in dem ich sie vor drei Jahren zuletzt ­gesehen hatte. Sir Michael und ich eilten sofort in die Stadt und ­begaben uns geradewegs zu der alten Anschrift. Das Haus war aber von fremden Menschen bewohnt, die mir keinen Hinweis auf den Verbleib meiner Freundin geben ­konnten. Sir Michael versuchte es auch in den Geschäften der Gegend, doch er konnte trotz größter Bemühungen nichts in Erfahrung bringen. Alles vergeblich.“
    Während er in Sorge um George dasaß und Mylady nur halb zuhörte, wanderten Roberts Gedanken zum ­schattigen Fig Tree Court. Er hoffte, sein Freund sei in dem Zimmer mit Kanarienvögeln und rauchte in aller Einsamkeit eine Zigarre.
    Währenddessen plätscherte das reizende, ­wohlklingende Geplauder von Mylady so munter und unaufhörlich wie das Murmeln eines Baches unablässig weiter.
    Robert überlegte, dass George auch den Postzug nach Southampton genommen haben könnte, um seinen
Jungen ein letztes Mal zu besuchen, bevor er das Land verließ, wie er es so oft angekündigt hatte. Er sah ihn, wie Goerge sich über die Schiffsnachrichten in der Times beugte, auf der Suche nach einem Schiff, das ihn nach ­Australien zurückbringen sollte. Doch dann sah er George auf einmal kalt und steif auf dem Grund eines Flusses ­liegen, ­während sein totes Gesicht zum ­dunkler ­werdenden ­Himmel gerichtet war. Bilder dieser und ­ähnlicher Art verfolgten Robert den ganzen Abend.
    Später wollte Sir Michael ein wenig Musik hören, und so ging Mylady zum Flügel. In der Absicht, die Noten für sie umzublättern, folgte ihr Robert. Mylady aber spielte aus dem Gedächtnis, und daher blieb ihm die Mühe einer solchen Galanterie erspart. Sie schlug ein paar Takte an und verlor sich bald in einer schwermütigen Sonate von Beethoven. Diese Liebe zu düsteren und melancholischen Melodien, die so ganz im Gegensatz zu ihrem lebens­lustigen, leichtherzigen Naturell stand, schien so gar nicht ihrem Wesen zu entsprechen. Robert Audley ­beobachtete ihre juwelengeschmückten weißen Hände, die sacht über die Tasten glitten, während die zurückgefallenen Ärmel aus Spitze den Blick auf ihre anmutigen Handgelenke ­freiließen. Das breite, flache Goldarmband an ihrem ­rechten Gelenk rutschte jedoch plötzlich zurück, als sie gerade eine besonders schnelle Passage vortrug. Kurz unterbrach sie ihr Spiel, um das Armband wieder hinaufzuschieben. Doch Robert hatte die Verfärbung auf ihrer zarten Haut bereits bemerkt.
    „Sie haben sich am Arm verletzt, Lady Audley!“, rief er aus.
    Hastig schob sie das Armband über das Handgelenk. „Das ist nicht von Bedeutung“, entgegnete sie. „Leider habe ich eine Haut, die sich beim geringsten Anstoßen ­verfärbt.“ Sie setzte ihr Klavierspiel fort.
    Doch Sir Michael kam durch den Raum geschritten, um der Sache auf den Grund zu gehen. „Was ist das, Lucy?“, fragte er. „Und wie ist es passiert?“
    „Ich bin manchmal etwas zerstreut, und vor einigen Tagen habe ich mir ein Seidenband so fest um den Arm geschnürt, dass ich tatsächlich eine Druckstelle hatte, als ich es wieder entfernte“, erwiderte sie lachend.
    Robert hob die Augenbrauen. Mylady brachte offensichtlich eine kleine Notlüge vor, denn dieses Mal an ihrem Handgelenk war erst vor Kurzem und nicht vor ein paar Tagen entstanden. Die Haut begann sich gerade erst zu verfärben.
    Sir Michael ergriff das Handgelenk seiner Frau. „Halte die Kerzen, Robert“, bat er. „Wir wollen uns den Arm ­einmal näher ansehen.“ Deutlich waren nicht nur eine Druckstelle zu erkennen, sondern vier schwache, ­purpurne ­Verfärbungen. Doch Lady Audley blieb bei ihrer Erklärung und nahm das Klavierspiel wieder auf.
    Der Abend verlief ohne weitere Unterbrechungen. Gegen halb elf wünschte Robert seinen Verwandten eine gute Nacht und sagte Lebewohl. Er erklärte ihnen, dass er mit dem ersten Zug am Morgen nach London zurückkehren und sich im Fig Tree Court nach George umsehen werde.
    „Wenn ich ihn da nicht antreffe, werde ich nach ­Southampton weiterfahren“, meinte er, „und wenn ich ihn dort nicht finde

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