Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
liegen, den Unmut, den Robert über das Verhalten seines Freundes empfinden mochte, zu besänftigen.
„Das müsste er eigentlich“, antwortete Robert ernst, „denn wir sind seit den Tagen, die wir gemeinsam in Eton verbracht haben, immer gute Freunde gewesen. Es ist nicht freundlich von George Talboys, mich so zu behandeln.“
Der kleine Georgey horchte bei diesen Worten auf. „Das ist mein Name“, sagte er, „und der Name von meinem Papa, dem großen Gentleman. Wo ist die schöne Dame?“
„Welche schöne Dame?“
„Die schöne Dame, die früher so oft kam.“
„Er denkt an seine arme Mama“, meinte der Alte.
„Nein“, protestierte der Junge, „nicht Mama. Mama hat immer geweint. – Ich meine die schöne Dame, die so fein angezogen war und mir meine goldene Uhr geschenkt hat.“
„Er hat die Frau meines alten Kapitäns im Sinn. Eine vortreffliche Person, die großen Gefallen an Georgey fand und ihm einige großzügige Geschenke mitbrachte.“
„Wo ist meine goldene Uhr? Ich will dem Gentleman meine goldene Uhr zeigen!“, rief Georgey.
„Sie ist nicht da. Sie wird gereinigt, Georgey“, antwortete sein Großvater.
„Immer wird sie gereinigt“, maulte der Junge und trollte sich.
„Ich kann Sie beruhigen, Mr Audley“, murmelte der alte Mann entschuldigend und zog einen Pfandschein von einem hiesigen Pfandleiher aus seiner Tasche, den er Robert überreichte. „Die Uhr ist in sicherem Gewahrsam.“ Der Schein war auf den Namen eines Kapitän Mortimer ausgestellt und lautete: „Uhr, mit Diamanten eingefasst, elf Pfund“.
„Ich bin oft in großer Verlegenheit wegen ein paar Schilling, Mr Audley“, sagte der Alte. „Mein Schwiegersohn war mir gegenüber sehr freigebig, doch es gibt andere Menschen ... Es gibt andere, Mr Audley ... und ... und ... man hat mich nicht gut behandelt.“ Während er diese Worte mit mitleidheischender, weinerlicher Stimme hervorstieß, wischte er sich wohlplatzierte Tränen aus den Augen. „Komm, Georgey, es ist Zeit für den braven, kleinen Mann, ins Bett zu gehen. Komm mit deinem Großpapa. Entschuldigen Sie mich für einen Moment, Mr Audley.“
Robert Audley blieb allein im düsteren, engen Wohnraum zurück. Mit verschränkten Armen saß er dort und starrte auf den Boden. George war also fort. Vielleicht erhielt er ja tatsächlich nach seiner Rückkehr nach London einen Brief, der alles erklärte, doch er hatte das eigentümliche Gefühl, dass er seinen alten Freund niemals wiedersehen würde.
Dem Etui in seiner Tasche entnahm er eine Zigarre. Im kleinen Kamin glomm noch ein Funke, und so schaute sich Robert im Zimmer um, auf der Suche nach einem geeigneten Gegenstand, mit dem er seine Zigarre entzünden konnte. Ein zerknittertes Stück Papier lag, halb verbrannt, auf dem Kaminvorleger. Robert griff danach und glättete es in der Absicht, es anschließend so zusammenzurollen, dass es als Fidibus für seine Zigarre passend sei. Während er derart beschäftigt war, warf er einen flüchtigen Blick auf die geschriebenen Worte auf dem Papier. Seine Augen blieben an einem Namen hängen. Einem Namen, der seit Kurzem sein ganzes Denken beherrschte. Mit dem Papier in der Hand ging er zum Fenster und untersuchte es bei schwächer werdendem Abendlicht. Das Papier war Teil einer telegraphischen Depesche. Der obere Rand der Depesche war verbrannt, doch das wichtigere Stück, das den größten Teil der eigentlichen Nachricht enthielt, war noch vorhanden. „Talboys kam gestern Abend und fuhr mit dem Postzug nach London auf seinem Weg nach Liverpool, von wo er nach Sydney zu segeln beabsichtigt.“
Das Datum, der Name und die Adresse des Absenders sowie der Beginn der Nachricht waren verbrannt. Robert Audleys starrte auf das Stück Papier. Sorgfältig faltete er es und legte es zwischen die Seiten seines Notizbuches.
„Mein Gott!“, flüsterte er. „Was bedeutet das?“
13. Kapitel
R obert betrat seine Räume, als sich gerade die Morgendämmerung in die verlassenen Zimmer im Fig Tree Court hineinschlich. Im Briefkasten hinter der Tür waren mehrere Briefe, doch es war keiner von George Talboys dabei.
Nach dem Hasten von Ort zu Ort war der junge Advokat nun völlig erschöpft. Die für gewöhnlich so geruhsame Eintönigkeit seines Lebens war in einer Weise gestört worden, wie es niemals zuvor während der gemächlichen, bequemen Jahre seines Lebens je der Fall gewesen war. Sein Gefühl für den zeitlichen
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