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Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Titel: Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dryas Verlag
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Mädchen, und solange ich lebe und es mir gut geht, wird es dir nie an einer aufrichtigen ­Freundin oder einer Zwanzigpfundnote fehlen.“

10. Kapitel

    A ls Robert Audley endlich aus seinem Schlaf erwachte, war er überrascht, die Angelrute am Ufer liegen zu sehen. Die Leine trieb im Wasser und der Schwimmer bewegte sich im glitzernden Wasser der Nachmittagssonne auf und ab. Eine beträchtliche Zeit war der junge Advokat damit beschäftigt, seine Arme und Beine in die verschiedensten Richtungen zu strecken, um sich mittels dieser ­Übungen davon zu überzeugen, dass er noch immer über den ­richtigen Gebrauch seiner Glieder verfügte.
    Unter Aufbietung gewaltiger Kräfte erhob er sich vom Gras. Nun brach er gähnend auf, um nach George ­Talboys zu suchen. Gelegentlich stieß er einen ­schläfrigen Ruf nach seinem Freund aus, der allerdings kaum laut genug war, um die Vögel auf den Ästen über seinem Kopf ­aufzuscheuchen oder die Forellen im Bach zu seinen Füßen zu stören. Nach einer Weile zog er seine Uhr aus der Tasche und stellte voll Erstaunen fest, dass es bereits Viertel nach vier war.
    „So etwas! Dieser selbstsüchtige Bursche muss schon zum Dinner nach Hause gegangen sein“, murmelte er ­nachdenklich. Doch selbst ein guter Appetit und die Ahnung, dass sein Dinner mittlerweile kalt sein würde, vermochten nicht, Mr Robert Audleys konstitutionell bedingte, geruhsame Gangart zu beschleunigen. Und daher schlug die Uhr fünfmal, als er schließlich die ­Eingangstür des Sun Inn durchschritt. Er erwartete, George Talboys im kleinen Gastzimmer wartend vorzu­finden, doch sein Freund war nicht dort.
    „Das ist ja großartig“, seufzte Robert Audley. „Ein kaltes Dinner und niemand ist da, mit dem man es teilen kann. – Wo ist Mr Talboys?“
    Der Wirt des Gasthauses eilte herbei. „Er ist nicht hier gewesen, Sir, seit Sie heute Morgen zusammen weg­gegangen sind.“
    „Was, um Himmels willen, hat dieser Mensch mit sich angestellt?“, rief Robert. Er stellte sich ans Fenster und blickte hinaus auf die breite, sonnenbeschienene Hauptstraße. Ein mit Heubündeln voll beladenes Fuhrwerk kroch langsam vorüber. Eine Schafherde, von einem Hund bewacht, trabte die Straße entlang. Ein paar ­Maurer, die gerade ihre Arbeit beendet hatten, gingen vorbei. Am ­Straßenrand flickte ein Kesselflicker einige Töpfe. Ein ganz gewöhnlicher Anblick, wie man ihn von jedem Dorf her kennt, nur George Talboys war nirgends zu sehen.
    „Von all den außergewöhnlichen Dingen, die mir im Verlauf meines ganzen Lebens jemals zugestoßen sind“, bemerkte Mr Robert Audley, „ist dies das rätsel­hafteste von allen. – Ich werde mich lieber aufmachen und nach ihm suchen.“ Robert schnappte seinen Hut und ­marschierte geradewegs aus dem Haus. Doch er stellte sich die Frage, wo er nach George suchen sollte. George war ganz bestimmt nicht beim Forellenbach, also hatte es keinen Sinn, dort mit der Suche zu beginnen.
    Noch mit der Überlegung beschäftigt, trat der Wirt zu ihm. „Ich habe vergessen, Ihnen zu sagen, Mr Audley, dass Ihr Onkel fünf Minuten, nachdem Sie weg waren, hier gewesen ist und eine Nachricht für Sie hinterlassen hat. Sie und der andere Gentleman sollen zum Dinner nach Audley Court kommen.“
    Roberts Gesicht hellte sich auf. „Es sollte mich wirklich nicht wundern, wenn George Talboys zum Court ­gegangen ist, um meinen Onkel zu besuchen. Es sieht ihm zwar nicht ähnlich, aber möglich ist es doch, dass er es getan hat.“
    Es war sechs Uhr, als Robert an der Haustür seines Onkels den Klopfer betätigte. Er erkundigte sich sogleich nach seinem Freund. Ja, berichtete ihm der Diener, Mr ­Talboys habe um zwei Uhr vorgesprochen.
    „Und seitdem nicht mehr?“
    „Nein, seitdem nicht mehr.“
    Robert kehrte dem Court den Rücken zu. Was konnte nur aus dem Mann geworden sein? Von zwei Uhr bis sechs Uhr – also vier ganze Stunden – keine Spur von ihm! ­Verwirrt und besorgt marterte er sein Hirn mit allen ­möglichen Vermutungen über den Verbleib seines Freundes und eilte, seiner phlegmatischen Natur untreu werdend, mit hastigen Schritten davon. Dann fiel ihm etwas ein. „Ich habe es!“, murmelte er. „Der Bahnhof!“
    Er sprang über den Zaun und machte sich auf den Weg. Bald schon erreichte er den kleinen roten Backsteinbau. Der Bahnhofsvorsteher saß hinter einer Tür beim Nachmittagstee. Mr Audley schritt zur Tür und pochte mit ­seinem Spazierstock dagegen. Die Tür wurde

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