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Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Titel: Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dryas Verlag
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geöffnet.
    „Erinnern Sie sich des Gentlemans, der mit mir nach Audley gekommen ist, Smithers?“, fragte Robert ohne Umschweife.
    „Nun ja, um die Wahrheit zu sagen, Mr Audley, ich kann nicht behaupten, dass ich das tue.“
    „Sie erinnern sich seiner also nicht?“
    „Nicht dass ich wüsste, Sir.“
    „Das ist ärgerlich! Ich möchte nämlich wissen, ob er seit zwei Uhr heute Mittag eine Fahrkarte nach London gelöst hat. Ein hochgewachsener junger Mann mit breiter Brust und einem braunen Bart. Sie können ihn gar nicht ­verwechseln.“
    „Da waren vier oder fünf Herren, die Fahrkarten für den Zug um drei Uhr gekauft haben“, erwiderte der ­Vorsteher etwas zerstreut.
    „Vier oder fünf Herren! Aber entsprach einer von ihnen der Beschreibung meines Freundes?“
    „Nun, ich denke, einer hatte einen Bart, Sir.“
    „Einen dunkelbraunen Bart?“
    „Naja, ich weiß nur, dass er bräunlich oder so ähnlich war.“
    „War er grau gekleidet?“
    „Ich glaube, es war grau. Viele Herren tragen Grau. Er fragte kurz und bündig nach einer Fahrkarte.“
    „Das war George“, hoffte Robert. „Ich danke Ihnen, Smithers. Ich will Sie nicht länger stören.“
    Es ist sonnenklar, dachte er, als er den Bahnhof verließ, es hat George wieder eine seiner schwermütigen ­Stimmungen überfallen, und er ist nach London zurückgefahren, ohne mir ein Wort zu sagen. Ich werde ­Audley gleich morgen früh verlassen. Und so kann ich heute Abend ebenso gut die Bekanntschaft der jungen Frau ­meines Onkels machen.

11. Kapitel

    R obert traf Sir Michael und Lady Audley im Salon an. Mylady saß vor dem großen Flügel und ­blätterte in den Noten eines neuen Musikstückes. Als Robert Audley gemeldet wurde, wirbelte sie auf dem Drehstuhl herum, wobei die Volants ihres Seidenkleides raschelten. Dann stand sie auf und machte vor ihrem Neffen einen ­graziösen, halb förmlichen Knicks.
    „Ich danke Ihnen sehr für die Zobelfelle“, sagte sie und streckte ihm ihre kleinen Finger entgegen, die mit all den Diamanten, die sie daran trug, nur so glitzerten und ­funkelten. „Herzlichen Dank für diese wunderschönen Felle. Wie freundlich von Ihnen, sie für mich besorgt zu haben.“
    Robert hatte den Auftrag, den er für Lady Audley auf ­seiner Reise nach Russland ausgeführt hatte, schon ­beinahe wieder vergessen. Sein Kopf war so voll mit Gedanken über George Talboys, dass er Myladys Dankbarkeit nur mit einer knappen Verbeugung zur Kenntnis nahm.
    „Es ist nicht zu glauben, Sir Michael“, klagte er, „aber mein verrückter Freund ist doch tatsächlich nach London zurückgefahren und hat mich im Stich gelassen.“
    „Mr George Talboys ist in die Stadt zurückgefahren!“, rief Mylady mit hochgezogenen Augenbrauen.
    „Was für eine entsetzliche Katastrophe!“, warf Alicia maliziös ein.
    „Ich bin, ehrlich gesagt, seinetwegen etwas ­beunruhigt“, entgegnete Robert.
    Mylady wollte zu gern wissen, warum Robert um seinen Freund in Sorge sei, und so erzählte Robert vom Schicksal seines Freundes. „Es schien in letzter Zeit, als nähme er das Leben mittlerweile einigermaßen gelassen hin. Doch dann sagt er manchmal sehr seltsame Dinge, die mich fürchten lassen, dass er etwas Unbesonnenes tun könnte.“
    Es entstand eine kurze Pause, während der Lady Audley ihre gelben Ringellocken mit Hilfe des Spiegels, der sich ihr gegenüber oberhalb des Wandtischchens befand, ­sorgfältig zurechtzupfte. „Du liebe Zeit“, bemerkte sie. „Das ist höchst merkwürdig. Ich hätte nicht gedacht, dass Männer solch tiefer Gefühle fähig sind.“
    „Ich bin fest davon überzeugt, dass der Tod seiner Frau ihm das Herz gebrochen hat.“
    „Wie traurig!“, murmelte Lady Audley. „Es scheint fast grausam von Mrs Talboys gewesen zu sein, einfach zu ­sterben und ihrem armen Ehemann so viel Leid zu ­bereiten.“
    Beim Dinner war Mylady wirklich bezaubernd. Auf ganz entzückende Weise gestand sie ihre Unfähigkeit ein, den ihr vorgelegten Fasan zu tranchieren, und bat Robert um seine Hilfe. Voller Stolz auf ihre Schönheit und ihren Charme beobachtete Sir Michael, welchen Eindruck Mylady auf seinen Neffen machte. „Ich bin ja so froh, dass meine arme kleine Frau wieder in gewohnt guter ­Stimmung ist“, gestand er. „Gestern war sie sehr nieder­geschlagen wegen der Enttäuschung, die sie in London erlebt hat.“
    „Eine Enttäuschung?“
    „Ja, Mr Audley, eine sehr herbe Enttäuschung“, ­antwortete Mylady. „Neulich

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