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Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Titel: Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dryas Verlag
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­Männer abgereist war, bat Sir Harry Towers Miss Alicia Audley um eine Unterredung in der Bibliothek. Bei ­dieser Zusammenkunft zeigte der junge Fuchsjäger sehr viel Gefühl. In der Tat so viel unverfälschtes und aufrichtiges Gefühl, dass Alicia völlig verwirrt war. Sie antwortete ihm nette, freundschaftliche Worte: Sie würde ihn wegen ­seines ehrlichen und edlen Herzens auf ewig schätzen und respektieren, doch dürfe er niemals mehr von ihr verlangen als diese Wertschätzung und ihren Respekt. Ohne ein weiteres Wort verließ Sir Harry die Bibliothek.
    Robert Audley stand unterdessen in der Halle und betrachtete eine Landkarte von Mittelengland, als Alicia mit roten Augen aus der Bibliothek trat. Robert hielt seine Augen in einem Abstand von weniger als einem halben Inch von der Landkarte entfernt, um etwas erkennen zu können, als die junge Dame an ihm vorbeihuschen wollte.
    „Ja“, murmelte er, „Norwich ist tatsächlich in Norfolk, und dieser Dummkopf meinte, es sei in Hertfordshire. – Ha, Alicia, bist du es?“ Er drehte sich um.
    „Ja“, erwiderte seine Cousine kurz angebunden und versuchte, an ihm vorbeizuschlüpfen.
    „Alicia, hast du ja geweint?“ Die junge Dame geruhte nicht, ihm zu antworten. „Du hast geweint, Alicia. Sir Harry Towers von Towers Park in der Grafschaft ­Hertfordshire hat dir einen Heiratsantrag gemacht, nicht wahr?“
    „Hast du an der Tür gelauscht, Mr Audley?“, rief sie.
    „Nein, Miss Audley. Ich bin aus prinzipiellen Erwägungen gegen das Lauschen und zudem überzeugt, dass es in der Praxis ein sehr mühsames Unterfangen ist. Doch ich bin Advokat, Miss Alicia, und daher in der Lage, durch Induktion einen Schluss zu ziehen. Weißt du, was ein induktiver Beweis ist, Miss Audley?“
    „Nein“, entgegnete Alicia und bedachte ihren Cousin mit einem wütenden Blick.
    „Das habe ich mir gedacht. – Ich nehme an, Sir Harry würde nun fragen, ob das eine neue Art von Pferdepille ist. Nun ja. – Durch Induktion gelangte ich zu der Erkenntnis, dass der Baron im Begriff stand, dir einen Antrag zu machen. Erstens, weil sein Haar auf der falschen Seite gescheitelt und sein Gesicht so bleich wie ein Tafeltuch war, als er die Treppe herunterkam. Zweitens, weil er kein Frühstück essen konnte und sich an seinem Kaffee verschluckte. Und drittens, weil er vor seiner Abreise vom Court um eine Unterredung mit dir bat. Nun, wie wird es sein, Alicia? Heiraten wir den jungen Mann und wird der arme Cousin Bob bei der Hochzeit der Beistand des ­Bräutigams sein?“
    „Sir Harry Towers ist ein hochherziger junger Mann“, erwiderte Alicia und versuchte erneut, an ihrem Cousin vorbeizukommen.
    „Aber nehmen wir seinen Antrag nun an oder nicht? Werden wir Lady Towers mit einem prächtigen Landsitz in Hertfordshire, mit Sommerquartieren für unsere Jagdpferde und einer vierspännigen Kutsche samt Vorreitern für unsere Fahrt zu Papas Haus in Essex sehen? Wird es so sein, Alicia, oder wird es nicht so sein?“
    „Was geht dich das an, Mr Robert Audley?“, rief sie. „Was kümmert es dich, was aus mir wird und wen ich heirate? Heiratete ich einen Schornsteinfeger, würdest du nur deine Augenbrauen hochziehen und sagen: ‚Du meine Güte, sie war schon immer überspannt.‘ – Ich habe Sir Harry Towers’ Antrag abgelehnt. Doch wenn ich an seine edelmütige und selbstlose Zuneigung denke und sie mit der herzlosen, trägen, selbstsüchtigen und herablassenden Gleichgültigkeit anderer Männer vergleiche, dann habe ich gute Lust, ihm nachzulaufen und zu sagen ...“
    „Dass du deine Antwort widerrufst und Lady Towers wirst?“
    „Ja.“
    „Dann tue es nicht, Alicia“, sagte Robert Audley, wobei er das schlanke kleine Handgelenk seiner Cousine ergriff und sie die Treppe hinaufzog. „Komm mit mir in den Salon, Alicia. Meine reizende, hitzköpfige, beunruhigende kleine Cousine. – Setze dich hier in diese Fensternische, und nun wollen wir uns einmal ernsthaft miteinander unterhalten, ohne zu streiten, wenn wir können.“
    Sie hatten den Salon ganz für sich allein. „Alicia“, begann Robert so behutsam, als spräche er mit einem verzogenen Kind, „glaubst du, dass ein harmloser Wahnsinniger sich des Wertes eines netten, warmherzigen und liebevollen Mädchens nicht ebenso bewusst sein könnte, wie es die Nachbarn vermögen? Das Leben ist im Grunde genommen eine so äußerst beschwerliche Angelegenheit, dass man selbst seine Segnungen ohne viel Aufhebens hinnehmen sollte. Ich

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