Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
Neffen des Barons, für das harmlose Exemplar eines Verrückten. Er passte so gar nicht in die Gesellschaft um ihn herum.
Während früherer Besuche im Court hatte Robert Audley manchmal schwache Ansätze gezeigt, sich den sportlichen Unternehmungen der fröhlichen Gesellschaft anzuschließen. Einmal war er auf einem ruhigen grauen Pony von Sir Michael über gepflügte Felder getrottet, hatte dann atemlos und keuchend bei einem Bauernhof haltgemacht und seine Absicht kundgetan, an der Jagd nicht weiter teilnehmen zu wollen.
Erwartungsgemäß machte er in diesem Jahr keine Anstalten, derartige Vergnügungen im Freien mitzumachen. Er verbrachte vielmehr seine gesamte Zeit müßig im Salon und erwies sich auf seine eigene träge Weise Mylady und Alicia gefällig.
Lady Audley nahm die Aufmerksamkeiten ihres Neffen mit jener anmutigen, halb kindlichen Haltung entgegen, die ihre Bewunderer für so bezaubernd hielten. Alicia aber zeigte sich über den Wandel im Verhalten ihres Cousins äußerst ungehalten.
„Du warst schon immer ein armseliger, schlapper Bursche, Bob“, schimpfte die junge Dame, als sie, noch im Reitkleid, in den Salon stürmte. Sie hatte an einem Jagdfrühstück teilgenommen, dem Robert ferngeblieben war und dem er eine Tasse Tee im Boudoir von Mylady vorgezogen hatte. „In diesem Jahr jedoch weiß ich nicht, was mit dir los ist. Du bist zu nichts nütze, außer einen Strang Seide zu halten oder Lady Audley Gedichte vorzulesen.“
„Meine liebe, voreilige, impulsive Alicia, sei nicht so heftig“, bat der junge Mann. „Du darfst deinem Urteil nicht einfach freien Lauf lassen. Lady Audley interessiert mich, und die Freunde meines Onkels aus der Grafschaft interessieren mich nicht. Ist das eine zufriedenstellende Antwort?“
Verächtlich warf die junge Miss Audley den Kopf zurück. „Eine bessere Antwort werde ich von dir wohl kaum bekommen, Bob“, erwiderte sie unmutig. „Doch bitte, vertreibe dir nur deine Zeit auf deine Weise, lungere den ganzen Tag im Sessel herum, verderbe Myladys Vorhänge mit deinen Zigarren und verärgere jeden im Haus mit deinem dummen, geistlosen Gesichtsausdruck.“
Die junge Dame marschierte im Zimmer auf und ab, wobei sie ihre Gerte immer wieder wütend gegen den Rock ihres Reitkleides schlug. Ihre Augen funkelten voll Zorn, und ein rotes Glühen brannte auf ihrer Haut. An diesen Symptomen erkannte der junge Advokat ganz genau, dass seine Cousine sehr aufgebracht war. Hilflos sah Robert Miss Alicia dabei zu, wie sie den Raum durchmaß.
„Weißt du, Robert Audley“, fuhr sie fort. „Bei all deiner scheinbaren Liebenswürdigkeit bist du doch in Wirklichkeit voll von Eitelkeit und Hochmut. Du verachtest unsere Art der Unterhaltung. Du ziehst deine Augenbrauen hoch und zuckst mit den Achseln, lehnst dich in deinem Sessel zurück und willst mit uns und unseren Vergnügungen nichts zu tun haben. Du bist ein selbstsüchtiger, kaltherziger Sybarit.“
„Alicia! Du meine Güte!“ Die Morgenzeitung entglitt seinen Händen. Kläglich saß er da und starrte seine Angreiferin an.
„Ja, selbstsüchtig, Robert Audley! Du tätschelst den Kopf eines jeden nichtsnutzigen Köters auf der Dorfstraße, weil du eben nichtsnutzige Köter gern hast. Du beachtest kleine Kinder und gibst ihnen einen halben Penny, weil es dir gerade so beliebt. Doch du ziehst die Augenbrauen ein Viertel Yard in die Höhe, wenn der arme Sir Harry Towers eine törichte Geschichte erzählt. Du starrst den bedauernswerten Burschen an und bringst ihn mit deiner trägen Überheblichkeit aus der Fassung. Und was deine Liebenswürdigkeit anbelangt, so würdest du es zulassen, dass ein Mann dich schlägt, und du würdest dich auch noch für den Schlag bedanken, anstatt dir die Mühe zu machen zurückzuschlagen. Doch du wärest nicht bereit, einen Umweg von einer halben Meile zu gehen, um deinem besten Freund beizustehen. Sir Harry ist zwanzigmal so viel wert wie du. Er kann vielleicht seine Augenbrauen nicht bis zu den Haarwurzeln hochziehen, aber er würde für das Mädchen, das er liebt, durchs Feuer gehen, während du ...“
Genau in diesem Augenblick, da Robert sich endlich gewappnet hatte, den leidenschaftlichen Angriffen seiner Cousine entgegenzutreten, und Miss Alicia im Begriff zu sein schien, ihre heftigste Attacke zu reiten, versagte der jungen Dame die Stimme, und sie brach in Tränen aus.
Robert sprang von seinem Sessel auf. „Alicia, was ist los?“
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