Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
Onkels erst vor einer Stunde verlassen.“
„Und Mylady, geht es ihr gut?“
„Ja, recht gut.“
„Und so vergnügt und munter wie immer, Sir?“
„So vergnügt und munter wie immer.“
Nachdem sie Mr Audley den Tee eingegossen hatte, wollte sich Phoebe respektvoll zurückziehen. Doch als sie gerade ihre Hand auf den Türgriff gelegt hatte, sprach Robert sie noch einmal an. „Sie kannten Lady Audley, als sie noch Miss Lucy Graham hieß, nicht wahr?“, fragte er.
„Ja, Sir. Ich wohnte bei Mrs Dawson, als Mylady dort als Erzieherin tätig war.“
„Tatsächlich! War sie lange bei der Familie des Arztes?“
„Anderthalb Jahre, Sir.“
„Und sie kam aus London?“
„Ja, Sir.“
„Sie war eine Waise, glaube ich?“
„Ja, Sir.“
„Und war sie immer so heiter, wie sie es jetzt ist?“
„Immer, Sir.“
Robert leerte seine Teetasse und reichte sie Mrs Marks. Ihre Augen trafen sich für einen Moment. Die seinen blickten träge, doch in den ihren lag ein aufmerksamer Ausdruck.
Diese Frau wäre gut im Zeugenstand, dachte er. Es bedürfte allerdings eines geschickten Anwalts, um sie im Kreuzverhör aus der Ruhe zu bringen.
Er trank eine zweite Tasse Tee aus, dann schob er den Teller beiseite und zündete seine Pfeife an, während Phoebe das Tablett hinaustrug.
Der Wind jagte heulend über das frostbedeckte weite Land, strich durch die kahlen Bäume und rüttelte zornig an den Fensterrahmen.
Robert schürte das Feuer. Anschließend ruckte er das gebrechliche alte Sofa in die Nähe der Feuerstelle, wickelte seine Beine in die Reisedecke und streckte sich der Länge nach auf dem schmalen Polster aus. In dieser Lage nahm er seine Pfeife und begann zu rauchen. Er beobachtete, wie die bläulich-grauen Rauchringe in langsamen Windungen zur schmutzig-braunen Decke aufstiegen.
Wie ich schon sagte, war der Schankraum nur durch eine dünne verputzte Lattenwand von dem kleinen Wohnzimmer getrennt, in dem Robert sich aufhielt. Der junge Advokat konnte daher die zwei oder drei Händler aus dem Dorf und eine Anzahl von Bauern an der Theke lachen und reden hören, während Luke Marks sie mit alkoholischen Getränken versorgte.
Häufig konnte Robert einige ihrer Worte verstehen – vor allem die des Wirtes, denn dieser sprach mit rauer, dröhnender Stimme und gab sich großsprecherischer als jeder seiner Kunden.
„Der Mann ist ein Narr“, sagte Robert, während er seine Pfeife niederlegte. „Über kurz oder lang werde ich zu ihm hinübergehen und mich mit ihm unterhalten müssen.“
Er wartete, bis die wenigen Gäste einer nach dem anderen das Castle Inn verlassen hatten. Und nachdem Luke Marks hinter dem letzten seiner Kunden die Haustür verriegelt hatte, begab sich Robert gemächlich in den Schankraum, in dem der Wirt mit seiner Frau zusammensaß.
Geschäftig hantierte Phoebe an einem kleinen Nähkasten, in dem jede Garnrolle und jede glänzende, stählerne Schnürnadel ihren eigenen festen Platz einnahmen. Sie war gerade dabei, die groben Socken ihres Ehemannes zu stopfen. Dabei verrichtete sie ihre Arbeit jedoch so zierlich und fein, als handle es sich um die zarten seidenen Strümpfe von Mylady.
Phoebe blickte auf, als Robert in den Schankraum kam. In ihre blassen grauen Augen trat ein Ausdruck der Besorgnis, der sich in Furcht zu verwandeln schien, als ihr Blick von Mr Audley zu Luke Marks wanderte.
„Ich bin nur gekommen, um ein paar Minuten zu plaudern, bevor ich zu Bett gehe“, erklärte Robert und machte es sich vor dem fröhlich prasselnden Feuer bequem. „Haben Sie etwas gegen eine Zigarre, Mrs Marks? Ich meine natürlich, haben Sie etwas dagegen, wenn ich eine solche rauche?“, fügte er erklärend hinzu.
„Ganz und gar nicht, Sir.“
„Das wär’ aber auch was, wenn sie was gegen ein bisschen Tabak hätte“, knurrte Mr Marks, „wo ich und meine Kunden doch den ganzen Tag rauchen.“
Robert zündete seine Zigarre mit einem der von Phoebe aus Papier gefertigten Anzünder an, die den Kaminsims zierten. Gedankenvoll zog er an der Zigarre, bevor er das Gespräch begann. „Ich möchte, dass Sie mir alles über Mount Stanning erzählen, Mr Marks“, bat er.
„Da ist schon bald genug gesagt“, erwiderte Luke mit rauem Lachen. „Von allen langweiligen Löchern, in die ein Mann je seinen Fuß gesetzt hat, ist das so ziemlich das langweiligste. Nicht dass das Geschäft nicht ganz gut läuft, darüber kann ich mich nicht beklagen, aber ich hätt’ lieber ein
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