Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
Jungen Ihrem Zauber auszusetzen. Ich weiß, er ist ein so gutherziger und aufrichtiger Bursche, wie es ihn nur geben kann, aber ... aber ... Er soll noch heute Abend gehen.“
„Doch Sie werden nicht zu schroff sein, mein Lieber! Sie werden nicht unhöflich sein!“
„Unhöflich! Nein, Lucy. Ich werde zu ihm gehen und ihm sagen, dass er in einer Stunde aus dem Haus sein muss.“
In der Allee mit den kahlen Bäumen, unter deren düsterem Gewölbe George Talboys damals an jenem gewitterschwülen Vorabend vor seinem Verschwinden gestanden hatte, teilte Sir Michael Audley seinem Neffen mit, dass der Court nicht länger sein Heim sein könne. Mylady sei zu jung und zu schön, um die Aufmerksamkeiten eines gutaussehenden Neffen von achtundzwanzig Jahren hinzunehmen.
Robert zog seine buschigen schwarzen Augenbrauen in die Höhe und zuckte mit den Achseln, als Sir Michael sich taktvoll in Andeutungen erging. „Ich bin tatsächlich aufmerksam zu Mylady gewesen“, gab er zu. „Sie interessiert mich. Sie interessiert mich sogar sehr und in besonderer Weise.“
Er verließ den Court noch am selben Abend. Doch er ging nicht weit. Anstatt den Abendzug nach London zu nehmen, wanderte er hinauf zu dem kleinen Dorf Mount Stanning. Er kehrte im reinlich gehaltenen Gasthaus ein und fragte Phoebe Marks, ob man ihm Quartier geben könne.
17. Kapitel
D er kleine Wohnraum, in den Phoebe Marks den Neffen des Barons führte, befand sich im Erdgeschoß und war nur durch eine dünne Lattenwand von dem nicht sehr geräumigen Schankraum abgetrennt, in dem sich der Wirt und seine Frau für gewöhnlich aufhielten.
Es schien, als habe der weise Baumeister, der die Errichtung des Castle Inn beaufsichtigt hatte, Wert darauf gelegt, dass nur das vergänglichste und anfälligste Material beim Bauen verwendet werde, auf dass der Wind, der eine besondere Vorliebe für diesen ungeschützten Ort zu haben schien, freie Bahn haben möge, seinen Launen zu frönen. Zu diesem Zwecke hatte man kümmerliches Holzwerk statt solider Steinmetzarbeit genutzt, und auch die Türen zeichneten sich durch die Besonderheit aus, niemals wirklich zu schließen, sondern immer nur auf- und zuzuschlagen.
Robert blickte sich um. Nach den luxuriösen Annehmlichkeiten von Audley Court war diese Behausung fraglos eine große Veränderung. Es war in der Tat ein eher seltsamer Einfall des jungen Advokaten gewesen, dem Aufenthalt in diesem trübseligen Landgasthaus den Vorzug vor der Rückkehr in seine behaglichen Räume im Fig Tree Court zu geben. Es hatte sich seine persönlichen Annehmlichkeiten mitgebracht, und zwar in Form seiner Pfeife, seiner Tabaksdose und eines halben Dutzends Romane.
Während Mr Robert Audley seine neue Unterkunft musterte, ließ Phoebe Marks einen kleinen Jungen aus dem Dorf kommen, der ab und zu Botengänge für sie zu besorgen pflegte.
Sie nahm ihn mit in die Küche und gab ihm ein gefaltetes und versiegeltes Briefchen. „Kennst du Audley Court?“
„Ja, Madam.“
„Wenn du noch heute Abend mit diesem Brief dorthin läufst und dafür sorgst, dass er sicher in Myladys Hände gelangt, dann bekommst du einen Schilling von mir.“
„Ja, Madam.“
„Wirst du das auch nicht vergessen?“
„Nein, Madam.“
„Dann ab mit dir.“
Phoebe Marks ging zum Fenster und beobachtete, wie die dunkle Gestalt des Jungen im dämmrigen Winterabend die Landstraße entlangeilte. Sollte sein Kommen etwas Schlechtes bedeuten, dachte sie, dann weiß Mylady auf jeden Fall rechtzeitig Bescheid.
Phoebe brachte das sorgsam zusammengestellte Teetablett und die kleine zugedeckte Schüssel mit Schinken und Eiern, die für den unvorhergesehenen Gast in Eile vorbereitet worden war, in Roberts Zimmer. Ihr fahles Haar war ordentlich geflochten, und ihr hellgraues Kleid saß so tadellos wie in früheren Zeiten.
Nachdenklich betrachtete Robert sie, während sie die Tischdecke ausbreitete und den Tisch in die Nähe des Kamins rückte. „Das ist eine Frau, die ein Geheimnis zu wahren weiß“, überlegte er.
Leise glitt die stille Gestalt von Mrs Marks durch den Raum, von der Teekanne zur Teebüchse und von der Teebüchse zum Wasserkessel, der auf der Kesselplatte an der Kaminseite summte.
„Würden Sie mir bitte Tee eingießen, Mrs Marks?“, bat Robert und setzte sich in einen Armsessel.
„Kommen Sie direkt vom Court, Sir?“, erkundigte sich Phoebe, als sie Robert die Zuckerschale reichte.
„Ja, ich habe das Haus meines
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