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Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Titel: Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dryas Verlag
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Doch bevor Robert der Wahrheit auf den Grund gehen konnte, war Alicia aus dem Zimmer gestürmt. Er schickte sich an, ihr zu folgen, als er den Lärm der Gäste und Pferde, Hunde und Stallburschen von unten aus dem Hof heraufschallen hörte.
    Er ging zum Fenster und sah seine Cousine soeben ­hinausstürmen. Sir Harry Towers, dem Rang nach der bedeutendste unter den jungen Jägern der Nachbarschaft, nahm ihren kleinen Fuß in seine Hand, als sie sich auch schon in den Sattel schwang.
    „Du lieber Himmel!“, rief Robert aus, während er die fröhliche Reiterschar beobachtete, bis sie unter dem Torbogen verschwunden war. „Was bedeutet das? So eine hübsche Gestalt und so ein liebes, offenes Gesicht! Doch über einen Menschen ohne den geringsten Anlass derart herzufallen!“ Verwirrt schüttelte er den Kopf.
    Da betrat Mylady den Salon. In ihrem eleganten ­Morgenkostüm sah sie jung und strahlend aus. Ihre gelben Locken schimmerten noch von dem wohlduftenden ­Wasser, in dem sie ihr Morgenbad genommen hatte, und in ihren Händen hielt sie ihr samtbezogenes Skizzenbuch. Sie stellte eine kleine Staffelei auf einen Tisch in der Nähe des Fensters, setzte sich davor und begann damit, auf der Palette die Farben zu mischen. Unter halb geschlossenen Lidern beobachtet Robert ihr Tun.
    „Sind Sie sicher, dass meine Zigarre Sie nicht stört, Lady Audley?“
    „Oh nein, wirklich nicht. Ich bin den Geruch von Tabak gewöhnt. Mr Dawson, der Arzt, rauchte den ganzen Abend, als ich noch in seinem Haus lebte.“
    „Dawson ist ein netter Bursche, nicht wahr?“, fragte Robert beiläufig.
    Mylady brach in ihr entzückendes, überschwängliches Lachen aus. „Der freundlichste von allen netten ­Menschen“, antwortete sie. „Er zahlte mir fünfund­zwanzig Pfund im Jahr. Stellen Sie sich das nur vor! Das macht sechs Pfund und ein paar Silbermünzen im Quartal. Wie ­glücklich war ich damals, das Geld zu bekommen.“ Sie lachte auf und blickte auf ihre Mal­utensilien. „Allein eine ­einzige Farbe, wie ich sie hier verwende, kostet eine ­Guinea bei Windsor and Newton. Und neulich habe ich Mrs ­Dawson eines ­meiner Seidenkleider geschenkt.“ Inzwischen hatte sie ihre Farben gemischt und machte sich daran, eine ­Aquarellskizze zu ­kopieren, die einen ­italienischen ­Bauern darstellte und in einer unübersehbar an Turner gemahnenden Stimmung ­gehalten war.
    Schließlich war ihre Zeichnung fast fertig. Sie musste nur noch wenige, aber entscheidende Striche mit ihrem feinsten Pinsel aus Zobelhaar hinzufügen. Umständlich bereitete sie sich auf diese Aufgabe vor, indem sie das Bild aufmerksam von der Seite betrachtete.
    Während all dieser Zeit waren Roberts Augen eindringlich auf ihr hübsches Gesicht gerichtet. „Es war eine ­Veränderung von den Dawsons zu Audley Court, nehme ich an“, bemerkte er nach einer langen Pause. „­Manche Frauen würden sehr viel dafür tun, um eine solche ­Veränderung herbeizuführen.“
    Lucy Audleys klare blaue Augen weiteten sich. Sie holte tief Luft, hob den Pinsel auf und lachte laut. „Was für eine wunderliche Person Sie doch sind, Mr Audley! Wissen Sie, dass Sie mir manchmal Rätsel aufgeben ...“
    „Nicht mehr, als Sie mich vor Rätsel stellen, meine liebe Tante.“
    Mylady legte die Farben und das Skizzenbuch beiseite und setzte sich zu Robert Audley. Nachdem die üblichen Gesprächsthemen erschöpft waren, erkundigte sich Lady Audley an diesem Morgen zum ersten Mal seit seiner Ankunft vor einer Woche nach dem Freund ihres Neffen. „Dieser Mr George ... George ...“, begann sie mit zögernder Stimme.
    „Talboys“, ergänzte Robert.
    „Ja, natürlich ... Mr George Talboys. Übrigens ein ­ziemlich seltsamer Name und, nach allem, was man so gehört hat, auch ein sehr seltsamer Mensch. Haben Sie ihn in letzter Zeit gesehen?“
    „Ich habe ihn seit dem siebten September nicht mehr gesehen.“
    „Du liebe Zeit!“, rief Mylady aus. „Was für ein merk­würdiger junger Mann er doch sein muss. Bitte erzählen Sie mir alles darüber.“
    In wenigen Worten berichtete Robert von seinem Besuch in Southampton, seiner Reise nach Liverpool und den unterschiedlichen Ergebnissen seiner Nachforschungen. Um seine Geschichte besser erzählen zu können, hatte sich der junge Mann von seinem Sessel erhoben, den ganzen Raum durchschritten und gegenüber von Lady Audley Platz genommen.
    Sie hörte gespannt zu. „Und was schließen Sie aus ­alledem?“, fragte Mylady nach einer

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