Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
Weile.
„Das alles kommt mir so rätselhaft vor“, erwiderte er, „dass ich es kaum wage, irgendwelche Schlüsse zu ziehen. Doch in diesem Dunkel glaube ich, mich zu zwei Annahmen vorantasten zu können, die meiner Meinung nach so gut wie gewiss zu sein scheinen.“
„Und die wären ...?“
„Erstens: George Talboys ist niemals über Southampton hinausgekommen. Und zweitens: Er ist überhaupt nie nach Southampton gefahren.“
„Aber Sie haben doch dort seine Spur gefunden. Sein Schwiegervater hat ihn gesehen.“
„Ich habe Grund, an der Ehrlichkeit dieses Mannes zu zweifeln.“
„Du lieber Himmel!“, rief Mylady. „Was meinen Sie damit?“
„Lady Audley“, antwortete der junge Mann ernst, „ich war niemals als Anwalt tätig. Ich habe mich aber einem Berufsstand verschrieben, dessen Mitglieder schwerwiegende Verantwortungen zu tragen bereit sind. Bisher bin ich vor diesen Verantwortungen und seinen Pflichten zurückgeschreckt, so wie ich mich stets von allen Mühseligkeiten eines anstrengenden Lebens ferngehalten habe. Manchmal sehen wir uns jedoch gezwungen, genau jene Rolle zu übernehmen, die wir zuvor am meisten gemieden haben. Ich habe mich in letzter Zeit tatsächlich genötigt gefühlt, über diese Dinge nachzudenken. – Lady Audley, haben Sie sich jemals mit der Theorie des Indizienbeweises befasst?“
„Wie können Sie eine arme kleine Frau nach derartigen Dingen fragen?“, lächelte Mylady bezaubernd.
„Der Indizienbeweis“, fuhr der junge Mann fort, „ist ein wunderbares Gefüge, das sich aus einer Vielzahl von in allen Himmelsrichtungen gesammelten Kleinigkeiten zusammensetzt und doch gewichtig genug ist, um einen Menschen an den Galgen zu bringen. Ein Stück Papier, ein Fetzen von einem zerrissenen Bekleidungsstück, der Knopf, der an einem Mantel fehlt, ein Wort, das den übervorsichtigen Lippen des Schuldigen unbedacht entschlüpft ist, das Fragment eines Briefes. Unzählige Einzelheiten von so geringer Bedeutung, dass der Verbrecher sie vergessen haben mag, doch gleichzeitig sind sie stählerne Glieder in jener wundervollen Kette, welche die Kunst des Detektivs zusammenschmiedet. Und siehe, der Galgen wird errichtet. Die feierliche Glocke läutet im trüben Grau des frühen Morgens. Die Falltür knarrt unter den Füßen des Schuldigen, und die Strafe für das Verbrechen wird bezahlt.“
Bewegungslos saß sie in ihrem Sessel. Ihr Kopf war auf die bernsteinfarbenen Damastkissen gesunken. Kraftlos lagen die Hände in ihrem Schoß. Lady Audley war in Ohnmacht gefallen.
„George Talboys hat Southampton niemals erreicht“, flüsterte Robert Audley.
16. Kapitel
D ie Weihnachtswoche war vorüber. Einer nach dem anderen reisten die Besucher von Audley Court ab. Der dicke Landedelmann und seine Frau kehrten dem Zimmer mit den Wandteppichen den Rücken. Die fröhlichen Mädchen vom zweiten Stockwerk packten ihre Reisekisten und großen Koffer. Schwankende, betagte Familienkutschen wurden auf dem weitläufigen Platz vor der düsteren Eichentür vorgefahren und mit Bergen weiblichen Gepäcks beladen. Hübsche Gesichter lugten aus den Wagenfenstern, um der Gruppe vor der Eingangstür des Herrenhauses ein letztes Lebewohl zuzulächeln, während die Kutsche unter dem efeubewachsenen Torbogen hindurchratterte und davonrumpelte.
In diesem geschäftigen Treiben des Abschiednehmens sah man Myladys gelbe Locken gleichsam wie wandernde Sonnenstrahlen hier und dort aufleuchten. Ihre großen Augen zeigten einen entzückend betrübten Ausdruck, der in bezauberndem Einklang stand mit dem sanften Druck ihrer zarten Hand und ihren liebenswürdigen Worten, mit denen sie ihren Besuchern versicherte, wie traurig sie sei, sie zu verlieren. Sie wisse nicht, was sie tun solle, bis ihre Gäste wiederkehrten und den Court mit ihrer reizenden Gesellschaft belebten.
Doch wie sehr Mylady es auch bedauern mochte, ihre Besucher abreisen zu sehen, es gab zumindest einen Gast, auf dessen Gesellschaft sie nicht verzichten musste. Robert Audley machte keinerlei Anstalten, das Haus seines Onkels zu verlassen. Er habe keine beruflichen Verpflichtungen, erklärte er.
Sir Michael kannte darauf nur eine einzige Antwort: „Bleibe, mein lieber Junge, so lange du willst. Ich habe keinen Sohn, und du nimmst bei mir den Platz eines solchen ein. Sei zuvorkommend zu Lucy und betrachte den Court als dein Zuhause, so lange es dir beliebt.“
Bevor jedoch der letzte der jagdbegeisterten jungen
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