Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
Schlüssel zu meinem Leben ist. Helen Talboys.“
Diese Zeilen waren in einer Handschrift geschrieben, die Robert Audley nur zu gut kannte. Lange Zeit saß er schweigend da und grübelte über Helen Talboys’ Brief nach. Was bedeuteten diese letzten beiden Sätze? Was sollte ihr Vater verzeihen und um welches Geheimnis ging es?
Robert zermarterte sich das Hirn bei dem Versuch, einen Anhaltspunkt für die Deutung dieser zwei Sätze zu finden. Das Datum von Helens Abreise war laut Mr Maldons Brief der 16. August 1854. Miss Tonks hatte erklärt, dass Lucy Graham am 17. oder 18. August des gleichen Jahres in die Schule in den Crescent Villas eingetreten sei. Zwischen Helen Talboys’ Weggang aus dem Badeort in Yorkshire und Lucy Grahams Ankunft in der Schule in Brompton konnten nicht mehr als achtundvierzig Stunden verstrichen sein. Das war vielleicht nur ein unbedeutendes Glied in der Kette, aber es passte genau an seinen Platz.
„Hörte Mr Maldon noch einmal von seiner Tochter, nachdem sie aus Wildernsea fortgegangen war?“, fragte Robert.
„Das ist mir nicht bekannt, Sir“, antwortete Mrs Barkamb. „Aber nach jenem August sah ich nicht mehr viel von dem alten Herrn. Ich war gezwungen, ihn pfänden zu lassen, denn er schuldete mir die Miete von fünfzehn Monaten. Nur durch den Verkauf seiner wenigen, armseligen Möbel konnte ich ihn aus meinem Haus bringen. Der Mann ging mit dem Kind, das kaum ein Jahr alt war, nach London.“
Mrs Barkamb wusste sonst nichts mehr zu berichten, und Robert hatte auch keine weiteren Fragen. Er bat um die Erlaubnis, die Briefe des Leutnants und seiner Tochter behalten zu dürfen, und mit diesen in seinem Notizbuch verließ er das Haus. Robert ging direkt zum Hotel zurück und verlangte nach dem Fahrplan. Um Viertel nach eins fuhr ein Expresszug nach London zurück. Er veranlasste, dass sein Gepäck zum Bahnhof gebracht werde, und bezahlte die Rechnung. Während er auf die Abfahrt des Zuges wartete, wanderte er auf der Steinterrasse vor dem Meer auf und ab.
Ich habe die Lebensgeschichte von Lucy Graham und Helen Talboys bis zu dem Punkt zurückverfolgt, wo die eine verschwindet und die andere erscheint, sann er. Meine nächste Aufgabe wird es sein, die Geschichte jener Frau herauszufinden, die auf dem Friedhof in Ventnor begraben liegt.
10. Kapitel
N ach seiner Rückkehr aus Wildernsea fand Robert Audley in seinen Räumen einen Brief seiner Cousine Alicia vor. „Papa geht es viel besser“, schrieb die junge Dame. „Und es liegt ihm sehr daran, dich im Court zu sehen. Aus unerfindlichen Gründen hat meine Stiefmutter es sich in den Kopf gesetzt, dass deine Anwesenheit hier höchst wünschenswert sei, und sie plagt mich mit ihren törichten Fragen nach deinen Plänen. Also komme bitte unverzüglich und beruhige diese Leute. Deine dich liebende Cousine A. A.“
Mylady ist also begierig, von meinen Plänen zu erfahren, dachte Robert, während er grübelnd vor seinem Kamin saß. Warum läuft sie nicht davon, solange noch Zeit ist? Ich habe ihr meine Karten gezeigt und bin bei dieser Geschichte, weiß der Himmel, offen genug vorgegangen. Er stopfte seine Pfeife und begann zu rauchen. Ich muss ihr gegenüber wohl noch eindeutiger werden.
Gleich am folgenden Morgen brach er nach Essex auf und kam gegen elf Uhr in Audley Court an. Obwohl es noch früh war, war Mylady schon außer Haus. Sie sei mit ihrer Stieftochter zum Einkaufen nach Chelmsford gefahren, habe außerdem noch mehrere Besuche in der Umgebung der Stadt zu machen und werde wahrscheinlich erst zum Dinner zurückkehren. Ja, Sir Michaels Gesundheitszustand habe sich sehr gebessert und er werde am Nachmittag herunterkommen. Wolle Mr Audley nicht zum Zimmer seines Onkels gehen?
Nein, Robert wollte erst mit Lady Audley sprechen, bevor er gezwungen sein würde, seinem Onkel die Wahrheit zu sagen. Er sagte dem Diener, dass er ins Dorf spazieren und vor dem Dinner zurückkommen werde. Gemächlichen Schrittes ließ Robert den Court hinter sich und wanderte ziellos über die Weiden, die zwischen Audley Court und dem Dorf lagen. Es waren jene Weiden, über die er geeilt war, an dem Tag, als George Talboys verschwand. Robert blickte den Weg entlang und erinnerte sich des vagen Gefühls von Furcht, das ihn damals überkommen hatte.
Langsam schritt Robert den Weg hinauf, der zur Kirche von Audley führte. Die trübe Stille des einsamen Friedhofs passte zu seiner Stimmung. Die Gestalt
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