Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
Stanning zurück?“
„Ja.“
Den Hut in der Hand haltend, stand Robert vor ihr und blickte gedankenvoll durch die offene Tür, hinaus zu den Grabsteinen und der niedrigen Friedhofsmauer.
Clara Talboys beobachtete sein blasses Gesicht, das unter dem zunehmenden Schatten, der schon so lange auf ihm lag, abgehärmt erschien. „Sind Sie krank gewesen, seitdem ich Sie das letzte Mal sah, Mr Audley?“, fragte sie mit leiser Stimme, in der die gleiche melodiöse Traurigkeit mitschwang, welche die Tasten der alten Orgel unter der Berührung ihrer Hände verströmt hatten.
„Nein, ich bin nicht krank gewesen. Ich bin nur von hundert Zweifeln und verwirrenden Gedanken geplagt.“ Mr Audley räusperte sich, bevor er sich anschickte, seiner schönen Begleiterin einen guten Morgen zu wünschen, um dann vor der Knechtschaft, die ihre Gegenwart für ihn bedeutete, zu den einsamen Weiden außerhalb des Friedhofs entfliehen zu können.
Doch Clara Talboys hielt ihn auf. Sie sprach ihn auf genau das Thema an, das er am meisten zu vermeiden suchte.
„Sie versprachen mir zu schreiben, Mr Audley, sollten Sie etwas entdecken, das Sie der Aufklärung des Geheimnisses näher bringt“, sagte sie. „Sie haben mir nicht geschrieben. Daher nehme ich an, dass Sie nichts über den Tod meines Bruders herausgefunden haben, oder?“
Robert Audley schwieg. Wie sollte er diese Frage beantworten? „Ich glaube, dass ich der Kette von Indizienbeweisen seit unserem Zusammentreffen in Dorsetshire ein weiteres Glied hinzugefügt habe. Die Verbindung zwischen Ihrem Bruder und der Frau scheint klarer zu werden“, erwiderte er nach einer Weile.
„Und Sie weigern sich, mir zu sagen, was Sie entdeckt haben?“
„Nur so lange, bis ich mir sicher bin.“
„Tatsächlich!“
„Ja“, entgegnete Robert. „Sie müssen sich vor Augen halten, Miss Talboys, dass der einzige Grund, auf dem mein Verdacht beruht, sich auf die Identität zweier Personen stützt, zwischen denen scheinbar keine Beziehung besteht. Die Identität einer Person, die tot sein soll, mit einer anderen, die lebt. Wenn die Frau, die auf dem Friedhof von Ventnor begraben liegt, wirklich die Frau ist, deren Name auf dem Grabstein steht, dann habe ich keinen Grund für weitere Nachforschungen.“
Miss Talboys nickte schweigend und streckte ihm ihre Hand entgegen. Die kühle Berührung dieser schlanken Hand sandte einen Schauer durch seinen Körper. „Sie werden nicht zulassen, dass das Schicksal meines Bruders ein Rätsel bleibt, Mr Audley“, bemerkte sie ruhig. „Ich weiß, dass Sie Ihre Pflicht Ihrem Freund gegenüber tun werden.“
Während Clara Talboys diese Worte äußerte, betraten die Frau des Pfarrers und ihre beiden Begleiter den Friedhof. Robert sah sie auf die Kirche zukommen. Schnell hob er die Hand, die in der seinen lag, an seine Lippen, setzte den Hut auf und eilte mit einem kurzen Gruß hinaus.
Währenddessen kam Mrs Martyn beim Kirchenportal an. „Wer ist dieser gutaussehende junge Mann, mit dem ich dich beim Tête-à-Tête erwischt habe, Clara?“, fragte sie lachend.
„Er ist Mr Audley, ein Freund meines Bruders.“
„Wirklich! Er ist ein Verwandter von Sir Michael Audley, nehme ich an?“
„Sir Michael Audley?“
„Ja, meine Liebe, die bedeutendste Persönlichkeit in der ganzen Gegend. Wir werden dem Court demnächst wohl einen Besuch abstatten, und dann wirst du den Baron und seine hübsche junge Frau treffen. – Er war lange Zeit Witwer und hat vor ungefähr anderthalb Jahren eine mittellose junge Gouvernante zur Frau genommen. Ist das nicht eine wahrhaft romantische Geschichte? Lady Audley gilt als die schönste Frau der Grafschaft. – Doch nun komm, meine liebe Clara. Das Pony will nicht mehr auf uns warten, und wir haben noch eine lange Fahrt vor uns.“
Clara Talboys nahm in dem kleinen Wagen Platz, der unter der Aufsicht des Jungen, der zuvor die Bälge der Orgel betätigt hatte, vor dem Haupteingang des Friedhofs wartete. Mrs Martyn zog die Zügel an, und das kräftige Pferdchen setzte sich in Richtung Mount Stanning in Trab.
„Kannst du mir mehr über diese Lady Audley erzählen, Fanny?“, fragte Miss Talboys nach längerem Schweigen.
„Oh! Sie ist sehr hübsch. Eher eine kindliche Schönheit mit großen, strahlend blauen Augen und hellgoldenen Löckchen.“
Clara Talboys schwieg, während ihre Begleiterin die Frau den Barons in höchsten Tönen lobte. Sie dachte an eine Stelle in jenem Brief, den
Weitere Kostenlose Bücher