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Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Titel: Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dryas Verlag
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eines alten Mannes, der am anderen Ende des Friedhofs entlang humpelte, war das einzige Wesen weit und breit. Und der Rauch, der schwerfällig von den verstreuten Häusern an der langen Hauptstraße aufstieg, war der einzige Hinweis auf menschliches Tun und Treiben. Nur am zögernden Vorrücken der Zeiger auf der alten Kirchturmuhr konnte Robert erkennen, dass der träge Fluss der ländlichen Zeit im Dorf Audley doch nicht zum Stillstand gekommen war.
    Als Robert das Tor zum Friedhof öffnete und die kleine Einfriedung betrat, vernahm er auf einmal die feierliche Musik einer Orgel, die durch ein halb geöffnetes Fenster im Kirchturm zu ihm kam. Er hielt inne und lauschte den getragenen Harmonien einer verträumten Melodie.
    Als ich zuletzt hier war, pflegte der Schulmeister der Dorfschule die Kinder mit einer schlichten Darbietung einfacher Töne zu begleiten, sinnierte Robert. Ich hätte nicht gedacht, dass die alte Orgel derartige Musik von sich geben könnte.
    Er verharrte bei der Pforte, da er sich scheute, den ­schläfrigen Zauber zu durchbrechen, den die ­Melancholie der Melodie um ihn gewoben hatte. Die Töne des ­Instruments, die einmal zu voller Lautstärke ­anschwollen und dann wieder zu leise flüsternder Verhaltenheit ­herabsanken, drangen durch die Winterluft zu ihm. Sie besänftigten ihn in seinem Kummer. Sacht schloss er das Tor und überquerte den mit Kies bedeckten Platz vor dem Kirchenportal. Jemand hatte das Portal halb offen ­gelassen. Robert Audley ging in die Vorhalle, von der aus sich eine enge Steintreppe zur Empore und zum ­Glockenturm hochwand. Er nahm den Hut ab und trat in das ­Kirchenschiff. Mit behutsamen Schritten betrat er den heiligen Raum und schritt das schmale Seitenschiff ­hinunter bis zum Altargitter. Eine kleine Galerie befand sich ihm genau gegenüber. Die knappen grünen Vorhänge vor der Orgel waren zugezogen, so dass er keinen Blick auf den Spieler werfen konnte. Die Musik erfüllte noch immer den Kirchenraum.
    Der Organist war nun zu einer Melodie von ­Mendelssohn übergegangen, einer Weise, deren verträumte Traurigkeit Robert zu Herzen ging. Er schlenderte in den Nischen und Ecken der Kirche umher, betrachtete die verfallenen ­Erinnerungstafeln längst vergessener Toter und lauschte der Musik.
    Plötzlich verstummte die Orgelmusik und Robert hörte, wie das Instrument zugeklappt wurde. Neugierig wartete er darauf, dass der Organist die kleine Treppe herunter­kommen würde. Die erste Person, die er sah, war ein Junge in Cordhose und dunklem Leinenkittel, der mit viel Geklapper die steinerne Treppe hinunterpolterte. Sein Gesicht war von der Anstrengung, die Bälge der alten Orgel mit Luft zu füllen, stark gerötet. Dicht hinter dem Jungen folgte eine junge Dame, die in einem ­schwarzen Seidenkleid und mit einem großen grauen Schal schlicht gekleidet war. Bei Mr Audleys Anblick zuckte sie ­zusammen und wurde blass.
    Von allen Menschen auf der Welt war diese Person die letzte, die Robert hier zu sehen erwartet hatte. Clara ­Talboys hatte ihm zwar erzählt, dass sie Freunde in Essex besuchen werde, doch die Grafschaft war schließlich groß und dieses Dorf sicher einer der abgelegensten Orte darin. Dass die Schwester seines verlorenen Freundes gerade hier sein sollte, bedeutete eine Komplikation seiner ohnehin vorhandenen Schwierigkeiten, die er nicht hatte voraus­sehen können.
    „Mr Audley! Sie sind sicherlich überrascht, mich hier zu sehen“, begann Miss Talboys.
    „Sehr überrascht.“
    Sie lächelte. „Ich erzählte Ihnen doch, dass ich nach Essex fahren würde. Als ich gerade im Begriff war aufzubrechen, erhielt ich Ihre telegraphische Nachricht und beantwortete sie noch schnell. – Die Freundin, bei der ich wohne, Mrs Martyn, ist die Frau des Pfarrers von Mount Stanning. Ich bin heute Morgen nach Audley gekommen, um das Dorf und die Kirche zu besichtigen. Und da Mrs Martyn gemeinsam mit dem Kuraten und seiner Frau der Schule einen Besuch abstatten musste, habe ich mir die Zeit damit vertrieben, die alte Orgel auszuprobieren. Das Dorf hat seinen Namen von Ihrer Familie, nehme ich an.“
    „Ich glaube, dass es so ist“, erwiderte Robert, der sich über die Gelassenheit der Dame im Gegensatz zu seiner eigenen Verlegenheit sehr wunderte. „Beabsichtigen Sie, hier auf Ihre Freunde zu warten, Miss Talboys?“
    „Ja, sie werden mich abholen, nachdem sie ihren Rundgang beendet haben.“
    „Und Sie kehren heute Nachmittag mit ihnen nach Mount

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