Das Geheimnis der Maurin
vorgehabt hatte, beim Essen Livana in Augenschein zu nehmen und danach zu entscheiden, ob sie wirklich so fad war, wie sie auf den ersten Blick wirkte, wandte sie sich nun doch Aaron zu, zumal der von ihren Brüdern und ihren Cousins ignoriert wurde – was sie jedoch nicht wundern konnte. Wie vorhin am Wagen vermied Aaron es auch jetzt, zu einem von ihnen hinzusehen. Stattdessen blickte er starr auf seinen Teller, auf den der Diener gerade Reis und ein paar
albóndigas,
würzige Rinderhackfleischbällchen, legte. Beim Essen hob Aaron für keine Sekunde den Blick, allerdings hatte Chalida zunehmend den Eindruck, dass er dies nicht aus Schüchternheit tat, sondern weil er einfach in einer eigenen Welt lebte.
Auch an den nächsten Tagen beobachtete Chalida dies immer wieder: Aaron hielt sich abseits; und wenn er überhaupt Gesellschaft suchte, dann schien er die von Tieren zu bevorzugen.
Schließlich traf Chalida ihn im Pferdestall an Barbakans Verschlag. Sie war gekommen, um mit ihm auszureiten, was sie zwar nicht ohne Begleitung durfte, aber sie wusste, dass der Stallbursche sie nicht verraten würde, weil sie dem faulen Kerl oft bei der Arbeit half, und mit dem Hund an ihrer Seite, das fand zumindest sie, hatte sie ohnehin genug Schutz.
»Barbakan fasst du besser nicht an«, erklärte sie Aaron und bemühte sich, dabei weder altklug noch überheblich zu klingen; von ihren Brüdern wusste sie, wie schnell man Jungs damit wütend machte. »Barbakan gehört meinem Vater und ist sehr eigen. Wenn er jemanden nicht kennt, ist er unberechenbar.«
Aaron richtete sein Augenmerk auf das Zaumzeug in ihrer Hand, sagte aber nichts und sah ihr auch nicht ins Gesicht. Chalida blieb verwirrt stehen. Was war nur los mit diesem Jungen? Warum redete er nicht? Zwar hatte sie Aarons Pflegeeltern sagen hören, dass er vor zwei Jahren hatte mit ansehen müssen, wie seine Eltern bei einem Pogrom niedergemetzelt worden waren, und dass er selbst nur dank einem glücklichen Zufall mit dem Leben davongekommen wäre, aber deswegen musste er doch nicht auch sie mit Missachtung strafen – schließlich hatte sie nichts damit zu tun! Soweit sie es mitbekommen hatte, hatte er bisher auch noch mit sonst niemandem gesprochen, denn ein bloßes »ja«, »nein« oder »danke« war in ihren Augen noch kein Sprechen, sondern zeigte lediglich, dass er weder taub noch stumm war.
»Reitest du auch gern?«
Aaron hob die Achseln.
»Aber du kannst reiten?«
Aaron nickte.
Chalida ging zu Barbakan, der sie mit erfreutem Schnauben empfing. Aaron kam ihr nach und streckte seine schlanke, für einen Jungen geradezu grazile Hand ebenfalls in Richtung der Pferdenüster. Zuerst scheute Barbakan zurück, aber dann kam er näher und schien den Jungen aufmerksam zu betrachten.
»Das heißt, er mag dich!«, rief Chalida strahlend. »Unglaublich! Außer Vater und mir lässt er niemanden an sich heran! Auch die Stallburschen können nur in seinen Verschlag, wenn Vater oder ich dabei sind.«
Aaron sah zweifelnd zu ihr auf. Es war nur kurz, aber ihre Blicke begegneten sich, und Chalida lächelte ihn an.
»Willst du mit mir ausreiten?« Sie zeigte auf die bildschöne Fuchsstute in der Nebenbox. »Gipta ist auch sehr schnell, wenn auch nicht ganz so schnell wie Barbakan, aber das ist ohnehin kein anderes Pferd in unserem Stall.«
Aaron ging noch näher zu Barbakan, und jetzt ließ sich der Hengst von ihm sogar über die Nüstern streichen. Chalida lächelte noch immer, wissend, dass Aaron ihrem Vater damit imponieren würde. Mit einem Mal fand sie es noch viel aufregender, einen Jungen im Haus zu haben, vor dem sie sich nie verschleiern würde müssen, weil er zu ihrer Familie gehörte – obwohl er nicht zu ihr gehörte.
»Na los, komm schon! Giptas Zaumzeug und Sattel findest du da drüben in der Sattelkammer, gleich auf der ersten Halterung rechts neben der Tür. Und dann wollen wir mal sehen, was du im Sattel draufhast!«
Und da sah Aaron wieder zu ihr, erneut nur ganz kurz, aber in den tiefschwarzen Augen war Licht.
Von da an ritten Aaron und Chalida beinahe täglich miteinander aus und verbrachten auch sonst viel Zeit miteinander, und allmählich begann Aaron, mit Chalida zu reden, zuerst nur das Nötigste, aber es wurde von Tag zu Tag mehr. Auch Jaime mochte den aufgeweckten Jungen, und als er sah, dass Chalida nicht geschwindelt hatte, sondern Barbakan Aaron tatsächlich an sich heranließ, willigte er ein, ihn einmal auf seinem Pferd reiten zu
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