Das Geheimnis der Maurin
Zwangskonversion. Während Deborahs Geschwister trotzdem in Portugal bleiben wollten, hatten Deborahs Eltern entschieden, mit ihrer jüngsten, noch unverheirateten Tochter, einem Nachkömmling, und ihrem Pflegesohn nach Spanien zurückzukehren. Nach Portugal hatte sie einst die Freiheit gelockt, ihren Glauben frei ausüben zu können, aber da sich diese Illusion nach ihrer Zwangstaufe zerschlagen hatte, zogen sie es vor, in die alte Heimat zurückzukehren. Selbstverständlich hatte Raschid ihnen angeboten, bei ihnen auf der Seidenfarm zu leben, zumal er wusste, wie sehr Deborah an ihren Eltern hing.
»Mutter, Mutter, sie kommen, sie sind da!«
Die Wangen gerötet, das lockige Haar zerzaust und voller Stroh, wohl weil sie einen Großteil des Nachmittags wieder einmal mit ihrem Hund bei ihrem geliebten Barbakan verbracht hatte, stürmte Chalida wie ein kleiner Derwisch ins Haus, packte ihre Mutter an den Händen und wirbelte um sie herum. »Ich bin ja schon sooo gespannt auf meine kleine Tante!«
Der Gedanke, dass die kleine Nachzüglerin von Deborahs Eltern ihre Tante und trotzdem jünger war als sie, hatte Chalida von Anfang an sehr aufregend gefunden, und auch auf diesen Waisenjungen war sie sehr gespannt. Zwar lebten im Haus schon ihre Brüder und die vier Kinder Deborahs, aber einen ganz neuen Jungen kennenzulernen erschien ihr wie ein gewaltiges Abenteuer.
Lachend ließ sich Zahra von ihrer Tochter mitziehen und rief auch nach Deborah, die sofort herbeigeeilt kam und noch vor ihnen nach draußen lief. Als Zahra und Chalida vors Haus traten, hatten die Jungen den Reisenden schon das Hoftor geöffnet, so dass sie gerade mit ihrem Pferdewagen vor der Eingangstür hielten. Mit einem Freudenschrei fiel Deborah ihren Eltern in die Arme. Acht Jahre hatten sie einander nicht gesehen. Auch Zahra und selbst die sonst so bedächtige Tamu fielen über die Neuankömmlinge mit hundert Fragen her, und die Kinder, die sie zwar nicht kannten, aber vor Neugier ebenso brannten wie Chalida, wuselten auch noch herum, damit ihnen nur ja nichts entging, und musterten ihre neuen Spielkameraden. Chalida wandte sich als Erstes ihrer »Tante« zu, fand sie enttäuschend blass, geradezu fade, und drehte sich dann zu Aaron um. Für seine dreizehn Jahre war er ein ausgesprochen hochgewachsener Junge, den man hätte schön nennen können, wäre da nicht diese undurchdringliche Mauer, diese dunkle Abwehr in den großen, schwarzen Augen gewesen, die ihm eine seltsame, vor der Zeit gekommene Reife verlieh. Trotz seiner abweisenden Haltung fühlte sich Chalida zu dem Jungen hingezogen und ärgerte sich, dass er auf keinen ihrer Blicke reagierte, sondern in sich gekehrt neben dem Fuhrwagen stand und das wilde Treiben um sich herum kaum wahrzunehmen schien. Auch auf die Annäherungsversuche der Jungen reagierte er nicht.
»Oh Vater, Mutter, Ihr müsst doch sterbensmüde von der langen Reise sein!«, kam es nach einer Weile des Lachens, Herzens und Fragens Deborah in den Sinn, und ihre Eltern konnte nicht anders, als dies schmunzelnd zu bejahen. Deborah zeigte ihnen das Zimmer, das man für sie vorbereitet hatte, ihre kleine Schwester Livana würde bei Chalida und Ranaa schlafen, Aaron bei den Jungen im Zimmer. Während die Diener den Wagen abluden und sich die Neuankömmlinge frisch machen konnten, vergewisserte sich Tamu, dass sich in der Küche weiter alle besondere Mühe für das Abendessen gaben. Auch bisher hatte sie für die Familie
halal
und für Deborah koscher gekocht, aber da Tamu von früher wusste, dass Deborahs Eltern überdies milchiges und fleischiges Essen nicht mischten, hielt sie es für angeraten, einen Blick auf Maria zu haben und darauf zu achten, dass sie tatsächlich auch das neue Kochgeschirr für das Essen der jüdischen Familienmitglieder benutzte.
Chalida, Ranaa und Livana kamen als Erste zum Tisch, durften sich aber nicht setzen, bevor die Erwachsenen Platz genommen hatten, und beäugten sich neugierig. Als Raschid und Jaime eintrafen, wurden ihnen von ihren aufgeregten Töchtern sogleich Livana und kurz darauf auch Aaron vorgestellt, der gegenüber den männlichen Erwachsenen weit weniger scheu zu sein schien. Nachdem die beiden Männer sich gewaschen und Raschid, wie es die Sitte vorschrieb, sich den Mund ausgespült hatte, rief dieser die Familie zum Essen.
Für das Willkommensessen hatte Zahra den großen Tisch in dem weitläufigen und blumenreichen Patio hinter dem Haus decken lassen. Obwohl Chalida
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