Das Geheimnis der Medica: Historischer Roman (German Edition)
einzelnen Leinenbahnen in den zähflüssigen Gipsbrei tauchte.
»Das muss schnell gehen, der Gips trocknet rasch.«
Sie ließ sich von ihm nach und nach die gipsgetränkten Leinentücher reichen, die sie Schicht um Schicht um Bein und Fuß wickelte. Die beiden arbeiteten stumm und konzentriert, bis die Gipsschicht um das Bein so dick war, dass sie der Medica belastungsfähig genug erschien. »In etwa drei Wochen könnt Ihr Euch den Gips abnehmen lassen, das ist nicht schwer. Der Gips ist zwar hart, bricht aber schnell und bröckelt, wenn man mit einem kleinen Hammer leicht daraufschlägt«, meinte sie. »Bruder Thomas hat Euch eine Krücke gefertigt, die könnt Ihr dann als Gehhilfe benutzen. Belastet am Anfang das verletzte Bein möglichst wenig, aber Ihr werdet sehen, das ist weit besser, als nur zu liegen. Der Gips gibt Euch Eure Beweglichkeit wenigstens zum Teil zurück.«
Als sie schließlich fertig waren und Bruder Thomas Wasser und Handtücher brachte, damit sie sich säubern konnten, begann Anna: »Vor zwei Tagen hat ein fremder Mönch Berbelin eine Nachricht für mich übergeben. Ihr kennt die Botschaft noch nicht, Chassim, aber sie verändert alles.«
Sie fischte einen Pergamentzettel aus ihrer Tasche und drückte ihn Chassim in die Hand.
IO. 9,25
DIAL. MIR.
AR. PI.
SEPULC.
IO. BAPT.
VIG.
Als er ihn gelesen hatte, sah er die Medica verständnislos an. »Meine Schwester hat mit mir immer Rätselspiele gespielt, als ich noch ein Kind war. Ich war recht gut darin. Aber das ist mir zu hoch.«
Er gab Anna die Botschaft zurück, und sie begann, die beiden Männer über die Nachricht aufzuklären und den Plan zu erläutern, den sie geschmiedet hatte.
VI
E s war Vollmond, und keine Wolke stand am Himmel, sonst hätte Bruder Thomas sein Pferd nicht so halsbrecherisch über den Hügelkamm jagen können, der vereinzelt mit Büschen und Bäumen bestanden war. Er ritt, was sein Pferd und sein vom Sattel malträtierter Hintern hergaben, damit er Kloster Heisterbach, das gute drei Tagesritte von Oppenheim entfernt war, rechtzeitig erreichte. Den Wachen vor dem Haus der Medica war er durch den Geheimgang entwischt, durch den ihn Anna mitten in der Nacht von der Scheune bis zum Innenhof von Burg Landskron geführt hatte. Dort hatten schon die zwei genauestens instruierten Pferdeknechte mit einem Pferd des Junkers auf ihn gewartet. Bruder Thomas graute vor dem langen Ritt, aber wenn er damit der Medica helfen und sie vor dem Scheiterhaufen retten konnte, der ihm als Helfershelfer genauso drohte, nahm er es auf sich, an Annas Stelle an dem Treffpunkt zu erscheinen, der in der geheimnisvollen Botschaft des Mönchs angegeben war.
Bruder Thomas musste sich beeilen, hatte er doch hoch und heilig versprochen, bis zum Festum nativitatis Mariä, dem achten Tag im Monat Scheiding, wieder zurück zu sein, wenn auf Befehl des Erzbischofs der Prozess beginnen sollte.
Anna hatte Bruder Thomas eine Vollmacht mitgegeben, damit er in ihrem Namen und ihrem Auftrag handeln konnte. Er wusste nicht, was ihn im Kloster Heisterbach erwartete. Wenn alles gutging, würde er zumindest eine Information erhalten, die Anna, ihm selbst und allen Beteiligten, die der Erzbischof noch in den Prozess verwickeln wollte, vielleicht Leib und Leben zu retten vermochte.
Das ist, dachte Bruder Thomas, natürlich im Grunde genommen eine verzweifelte und womöglich viel zu optimistische Spekulation, aber der einzige Hoffnungsschimmer weit und breit. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als alles zu geben und nur die notwendigsten Ruhepausen einzulegen, die Pferd und Reiter brauchten, um das Kloster schleunigst zu erreichen.
* * *
Nachdem Chassim die Botschaft gelesen hatte, war Anna aufgestanden und hatte erklärt, was es mit dem Papier auf sich hatte. Mit wachsendem Erstaunen hatten Bruder Thomas und Chassim die Deutung der Nachricht aus Annas Mund vernommen.
»Derjenige, der dieses Pergament beschriftet hat, muss wissen, dass ich früher Bruder Marian war, denn nur Bruder Marian kann die abgekürzten Worte verstehen und ergänzen und nur für ihn ergeben sie einen Sinn. Fangen wir beim zweiten Kürzel an, das erste hat Bruder Thomas ja schon gelöst: IO . 9,25 heißt Johannesevangelium, Kapitel 9, Vers 25: ›Eines weiß ich wohl: dass ich blind war und bin nun sehend.‹
DIAL. MIR. bedeutet ausgeschrieben DIALOGUS MIRACULORUM , ein Werk des verstorbenen Abtes von Kloster Heisterbach, Caesarius von Heisterbach. Übersetzt heißt es ›Dialog
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