Das Geheimnis der Medica: Historischer Roman (German Edition)
ergreifen, das ahnte sie. Davon würde sie ihn niemals abhalten können, egal, wie sie es auch drehte und wendete.
* * *
Chassims Kräfte kehrten nach und nach zurück. Doch noch immer war er ans Lager gefesselt, was ihn zusehends quälte, denn der Tag des erzbischöflichen Gerichts rückte mit beängstigender Unausweichlichkeit immer näher. Er wälzte Fluchtpläne, verwarf sie angesichts seines lähmenden körperlichen Zustands und der erzwungenen Tatenlosigkeit wieder und verstand in seiner wachsenden Verzweiflung darüber, dass er nicht einfach mit Schwert und Faust würde eingreifen können, nicht, was im Kopf und im Herzen von Anna vor sich ging. Schließlich bat er seine Schwester eindringlich um ein Gespräch mit seinem Schwager. Ottgild vertröstete ihn, versprach aber, mit Graf Georg zu reden und ihm mitzuteilen, dass er Chassim aufsuchen sollte.
Als die Tür seines Zimmers aufging und Anna hereinkam, fing Chassim sofort an zu strahlen, wie immer, wenn er sie sah und darauf hoffen durfte, sie endlich wieder in seine Arme schließen zu können. Aber in der gleichen enttäuschenden Regelmäßigkeit folgte Bruder Thomas und beraubte ihn seiner Illusionen, die ihm sein liebeskrankes Herz vorgegaukelt hatte.
Bruder Thomas trug zu Rollen aufgewickelte Leinenstreifen, eine Schüssel und einen Holzeimer mit Wasser ins Zimmer.
»Ah endlich«, sagte Chassim und legte eine gute Portion ätzenden Sarkasmus in seine Stimme. »Wollt ihr mich jetzt doch mit einem Zauber auf einen Schlag wieder gesund machen! Ich erzähle es auch nicht weiter.«
Er wusste, wie sehr er Anna mit derartigen Bemerkungen ärgern konnte, und es war seine Absicht, wenigstens irgendeine Gefühlsreaktion aus ihr herauszukitzeln. Seit sie sich ihm mit einer Leidenschaft hingegeben hatte, wie es bei einem scheinbar so selbstbeherrschten, zurückhaltenden und unerfahrenen Mädchen kaum zu erwarten gewesen wäre, hatte sie sich in eine abweisende und ernst dreinblickende Frau verwandelt. Dummerweise konnte er ihr nicht einmal nachlaufen und sie festhalten, damit sie ihm die Frage beantwortete, die ihm auf der Seele brannte: Ob sie ihn auch so liebte wie er sie. Erst jetzt sah er, dass auch noch die Magd Berbelin sein Zimmer betrat, sie hatte einen schweren Sack dabei, den sie auf dem Boden abstellte.
Bruder Thomas warf ihm einen strengen Blick zu. »Junker Chassim, das waren geschmacklose Worte. Die Medica tut wirklich alles, um Euch zu helfen, und Ihr habt nichts anderes als Spott für sie übrig.«
Chassim zeigte sich schuldbewusst. »Verzeiht mir, aber mein Zustand der erzwungenen Untätigkeit treibt mich allmählich zur Raserei.«
Er hatte sich bei ihrem Hereinkommen auf seine Ellenbogen aufgestützt, aber Anna drückte ihn sanft und doch unmissverständlich wieder auf sein Lager nieder und beugte sich über sein lädiertes Bein.
»Wir werden sehen, ob sich dieser Zustand ändern lässt. Ich werde jetzt Euer Bein untersuchen. Nicht bewegen!« Sie nahm ihm flink die mit Lederriemen fixierten Lanzenstücke ab, die sein Bein schienten, und besah sich seine vernähte Wunde. »Die Naht ist gut verheilt. Wir machen nun das versprochene Experiment mit Euch«, sagte sie. »Ich werde Euch einen Gipsverband bis unterhalb des Knies anpassen. Dazu muss der Gips weich sein. Ihr bleibt so lange ruhig, bis der Gips hart und trocken geworden ist. Wenn ich Euch genügend Lagen anlege, müsste er das Bein so stabilisieren, dass der gebrochene Knochen weiter zusammenwachsen kann und Ihr trotzdem aufstehen und ein paar Schritte gehen könnt.«
Sie wandte sich an die Magd. »Berbelin – sei so gut und behalte die Wachen draußen im Auge. Melde uns sofort, wenn du siehst, dass sich jemand dem Haus nähert.«
Sie wartete, bis Berbelin die Tür hinter sich geschlossen hatte, und begann mit der Arbeit, wobei ihr Bruder Thomas zur Hand ging.
Chassim lag still auf dem Rücken und fragte: »Warum hast du Berbelin hinausgeschickt?«
Anna rührte den Gips mit Wasser an, und Bruder Thomas legte die Leinenbahnen bereit. Nebenher sagte sie: »Weil ich euch beiden etwas mitzuteilen habe, das sie nicht zu wissen braucht. Es geht nur uns drei etwas an.«
Bruder Thomas und Chassim sahen sich an, Bruder Thomas zuckte mit den Schultern zum Zeichen, dass er auch keine Ahnung hatte, was Anna so Wichtiges sagen wollte.
Die Medica umwickelte Chassims Bein und den halben Fuß zuerst vorsichtig mit einer trockenen Lage Leinen, dann zeigte sie Bruder Thomas, wie man die
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