Das Geheimnis der Medica: Historischer Roman (German Edition)
über die Wunder‹. Ich habe es damals selbst gelesen, für jeden Novizen und Laienbruder des Klosters Heisterbach ist es eine Pflichtlektüre. Das Buch enthält eine geistliche Anekdotensammlung über Wunder und Visionen. Nur ich weiß, dass Pater Urban mir die Schrift ganz besonders ans Herz gelegt hat.«
Bruder Thomas fragte: »Und deshalb glaubt Ihr auch, dass Pater Urban diese Botschaft geschrieben hat?«
»Mir ist klar, das klingt wahnwitzig. Aber wer sonst sollte davon wissen?«
Darauf hatte auch Bruder Thomas keine hinreichende Antwort.
»Das dritte angedeutete Wort AR. PI. muss eine Abkürzung für Archiepiscopus, Erzbischof, sein«, fuhr Anna fort. »Der Schreiber dieser Zeilen will damit andeuten, dass er wichtige Informationen über den Erzbischof hat.«
»Warum bist du dir da so sicher?«, bemerkte Chassim.
»Irgendwie muss er von meiner Situation erfahren haben. Dass der Erzbischof einen Prozess wegen Häresie gegen die Medica führen will, hat sich doch wie ein Lauffeuer in der Gegend verbreitet. Dafür hat schon der Erzbischof selbst gesorgt. Um jeden abzuschrecken, der ihm in die Quere kommen will. Und in seinem Kloster, in Heisterbach, weiß es ganz bestimmt jeder, vom Prior bis zum Novizen.«
»Oder der Schreiber hat erst vor kurzem von der Existenz einer Medica erfahren, die zwei verschiedenfarbige Augen hat und hinter der die Kirche her ist«, warf Bruder Thomas ein. »Er hat sich an diese Augen erinnert, eins und eins zusammengezählt und messerscharf geschlossen, dass Bruder Marian oder besser Anna Ahrweiler noch lebt und diese Medica sein muss.«
Anna stimmte ihm zu. »Das werden wir erfahren, wenn wir den Schreiber treffen.«
»Und wenn es eine Falle ist?«, fragte Chassim besorgt.
»Warum sollte sich jemand die Mühe machen, mich in eine Falle zu locken? Wie Ihr sagt, ist mein Schicksal doch so oder so schon besiegelt.«
»Macht weiter!«, drängte Bruder Thomas. »Was bedeutet das nächste Kürzel?«
Aber bevor Anna etwas sagen konnte, schlug er sich mit der flachen Hand auf die Stirn. » SEPULC . heißt Sepulcretum – der Friedhof!«
Anna nickte zustimmend.
Bruder Thomas war begeistert. »Natürlich! Der Friedhof von Kloster Heisterbach. Dass ich nicht gleich darauf gekommen bin! Es steht alles da – man muss es nur richtig zu deuten wissen.«
Anna lächelte. »So ist es. Johannnes 9,25: ›Eines weiß ich wohl: dass ich blind war und bin nun sehend.‹ Das sagt uns dreierlei. Erstens: Wenn man die Botschaft richtig deutet, erschließt sich der Sinn. Zweitens: Der Schreiber hat ein Geheimnis aufgedeckt, das er mir unbedingt mitteilen will, und es betrifft den Erzbischof. Und drittens …« Sie legte eine Kunstpause ein. »Drittens: Johannes 9,25 bezeichnet den genauen Ort des Treffpunkts. Der Vers steht als Inschrift über dem Tor von Kloster Heisterbach.«
Bruder Thomas sprang auf. Der heilige Eifer hatte ihn vollends gepackt, und er resümierte aufgeregt: »Also, wir haben das Kloster, das Buch des früheren Abtes, den Erzbischof und den Friedhof. Bleibt noch IO. BAPT . – halt, ich weiß, was das bedeutet! Johannes Baptista, Johannes der Täufer!«
»So ist es. Und weil wir noch einen genauen Zeitpunkt zum Treffen brauchen, heißt das …«
Bruder Thomas unterbrach sie. »Aber die Geburt von Johannes dem Täufer wird zur Sommersonnenwende gefeiert, am Johannistag. Das ist schon acht Wochen her.«
»Es gibt noch einen zweiten Feiertag, der Johannes dem Täufer gewidmet ist.«
»Ihr habt recht!«, sagte Bruder Thomas und machte ein Gesicht, als habe er eine Eingebung des heiligen Geistes. »Die Enthauptung des heiligen Johannes des Täufers. Am 29. Tag des Monats Ernting .«
»Also in fünf Tagen. Und nun zu guter Letzt zum Kürzel VIG . Das kann nur Vigil heißen. Und die ist in Kloster Heisterbach gewöhnlich um 2 Uhr nach Mitternacht.«
Da war es heraus, das Rätsel gelöst. Anna sprach schließlich aus, was alle dachten: »Der Schreiber will mich treffen. Aber ich bin eine Gefangene des Erzbischofs. Ich kann nicht fort. Wenn ich trotzdem fliehe, hätte das unabsehbare Folgen für alle, die mich kennen. Außerdem wäre ich vogelfrei, und jedermann hätte das Recht und die Pflicht, mich zu töten. Ich käme nicht weit. Zudem würde mich im Kloster jeder erkennen. Ihr, Chassim, könnt nicht mal gehen, geschweige denn reiten. Also bleibt nur eine Möglichkeit …«
Mit diesen Worten hatte sie sich mit ernstem Gesicht Bruder Thomas zugewandt.
Der hatte
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