Das Geheimnis der Medica: Historischer Roman (German Edition)
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Seit die verschlüsselte Nachricht eingetroffen war, hatte Anna kein Wort mehr darüber verloren. Der Prozessbeginn rückte unaufhaltsam näher, in weniger als zwei Wochen war es so weit. Aber wenn Chassim oder Bruder Thomas darüber sprechen wollten, gab sie sich verschlossen wie eine Auster.
Dabei hatte sie insgeheim längst begonnen, an einem Plan zu feilen. An einem Plan, der noch nicht ausgereift war, der aber, so wurde ihr klar, je mehr sie darüber nachdachte, die einzige Möglichkeit bot, vielleicht doch noch heil aus der Sache herauszukommen. Das Dumme war nur, dass sie all ihre Hoffnungen auf eine einzige Karte setzen musste. Und ob diese Karte auch wirklich stach, das wusste allein der Herr im Himmel. Den sie schon so lange nicht mehr um Hilfe angefleht hatte, weil sie überzeugt war, dass er sie ohnehin vergessen hatte. Aber nun schien es ihr, dass er sich doch noch an sie erinnerte, an sie, die so sehr mit ihm gehadert hatte! Denn wenn sie genauer überlegte, war sie auf wundersame Weise immer wieder gerettet worden, immer dann, wenn sie meinte, es gäbe keinen Ausweg mehr.
Als ihr diese Erkenntnis mit einem Mal ins Bewusstsein einsickerte, erst allmählich und dann mit plötzlicher Klarheit, wusste sie, dass ihr die Gnade des Glaubens wieder zuteil geworden war. Gott hatte sie nicht verlassen. Oder vielmehr, sie hatte ihn wiedergefunden, weil er ihr ein Zeichen gegeben hatte. Nach langer Zeit war sie wieder in der Lage, mit Inbrunst zu beten, im Glauben daran, dass Gott der Herr ihr einen Ausweg wies. Die verschlüsselte Nachricht war ein Fingerzeig, den nur der Himmel ihr geschickt haben konnte. Auf einmal spürte sie eine innere Stärke und Zuversicht, die sie bisweilen verloren zu haben glaubte, eine feste und begründete Hoffnung, dass sich doch noch alles zum Guten wenden konnte …
Anna vermied es strikt, mit Chassim allein zu sein, weil dieser jede Gelegenheit nutzte, sie zärtlich zu berühren oder sie wenigstens um einen Kuss zu bitten. Stattdessen sperrte sie sich in ihr Laboratorium ein und gab vor, dort zu experimentieren oder ihre Bücher zu studieren, jedenfalls die, welche Bruder Thomas und Berbelin nicht mitsamt der Truhe hinter der Latrinenhütte vergraben hatten. In Wirklichkeit versuchte sie, sich auf den Prozess vorzubereiten, ging im Kopf ihre Argumentationen durch, focht nachts, wenn sie nicht schlafen konnte, imaginäre Streitgespräche mit dem Erzbischof aus und quälte sich mit der Vorstellung, dass Chassim, unbeweglich wie er immer noch war, sehnsüchtig auf sie wartete.
Nichts hätte sie lieber getan, als sich ihm in die Arme zu werfen, immer wieder schlichen sich, ob bei Tag oder bei Nacht, Bilder, Berührungen, Küsse, wohlige Empfindungen und unerfüllbare Hoffnungen in ihre Gedanken. Obwohl sie sich die größte Mühe gab, derlei Vorstellungen und Gefühle zu unterdrücken – sie war dagegen machtlos. Je mehr sie versuchte, nicht an Chassim zu denken, desto heftiger und öfter zog es sie zu ihm. Aber sie konnte jetzt einfach nicht ihren Gefühlen freien Lauf lassen, auch wenn sie noch so sehr darunter litt.
Sie hatte sich auf ihn eingelassen, weil sie schwach geworden war und weil sie alle Vernunft und alle Regeln in den Wind geschlagen hatte. Sie bereute es nicht. Wenigstens einmal im Leben hatte sie das göttlichste Geschenk an die Menschen, nämlich Liebe, Hingabe und Lust, empfunden und würde davon zehren bis an ihr Lebensende.
Was offenbar nicht mehr lange auf sich warten lassen würde, dachte sie in den Momenten kurz vor der abgrundtiefsten, nackten Verzweiflung, von der sie dann unvermittelt wieder gepackt wurde. Dann wollte sie nur noch eines: verhindern, dass ihre einzige Liebe mit in den Strudel ihres eigenen Untergangs hineingezogen wurde. Auf keinen Fall durfte irgendjemand von Chassim und ihr erfahren. Nicht dass noch dem Erzbischof solcherlei Informationen hinterbracht wurden. Gelegentlich warf sie einen heimlichen Blick nach draußen, und ein- oder zweimal sah sie, dass Schatten ums Haus schlichen. Wahrscheinlich waren es Spione, unterwegs im Auftrag des Erzbischofs, die beobachten sollten, ob sie nicht nachts irgendwelchen teuflischen Ritualen nachging und schwarze Messen mit Tieropfern abhielt oder was der Erzbischof ihr sonst noch alles unterstellen mochte. Chassim musste unter allen Umständen aus dem Gerichtsverfahren herausgehalten werden. Aber genau das war das Dilemma: Wenn es ihm irgend möglich war, würde Chassim für sie Partei
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