Das Geheimnis der Medica: Historischer Roman (German Edition)
gezogen. Die Dorfbewohner folgten Anna, Gero und seinen Soldaten. Anscheinend war das ganze Dorf auf den Beinen, zwei Mütter hatten sogar ihre Säuglinge im Arm. Niemand wollte sich entgehen lassen, wie der leprakranke Jüngling sich anstellen würde bei seinem Übertritt ins Jenseits. Nur Annas Eltern blieben mit zwei Bütteln zurück, Annas Mutter war weinend zusammengebrochen, ihr Mann stützte sie.
Schweigsam marschierte die Prozession zum Fluss, keiner sagte ein Wort.
Anna warf einen kurzen Blick über ihre Schulter, als sie merkte, dass ein heller Lichtschein in ihrem Rücken aufflammte. Was sie entdeckte, ließ ihr vor Entsetzen das Blut in den Adern gefrieren: Die Schergen hatten mit ihren Fackeln am armseligen Haus ihrer Eltern das Strohdach in Brand gesteckt. Wo waren ihre Eltern? Im Haus? Sie konnte noch sehen, wie einer der Soldaten die Tür mit irgendeinem Werkzeug verrammelte, und glaubte Schreie zu hören. Die Flammen griffen rasend schnell um sich, bis das ganze Haus lichterloh brannte. Das war die Strafe dafür, dass sie mit ihrer Lepra das Haus ihrer Eltern betreten hatte. Ihre Eltern waren hineingestoßen worden und mussten den Flammentod erleiden.
Für Anna brach innerlich die Welt in Scherben. Rasend vor Verzweiflung wollte sie umkehren, ihre Eltern vielleicht noch retten …
Aber Gero schien diesen Impuls geahnt zu haben und hielt sie auf, indem er ihr die scharfe Schneide des Schwertes an den Hals setzte, sie hämisch grinsend ansah und nur den Kopf schüttelte. Dann schubste er sie mit dem Schwert an, und sie setzte sich wieder in Bewegung. Jetzt, da sie alles verloren hatte, war jeder Widerstandswille in ihr gebrochen. Sie war schon so gut wie tot. Den Sturz ins Wasser konnte ohnehin niemand überleben. Dieser letzte Akt galt nur noch dem Befehl des Erzbischofs.
Am Rand des senkrecht abfallenden Steilufers blieb sie stehen. Über den Wäldern schien der Mond, unten gähnte der schwarze Abgrund. Die Wasseroberfläche war nicht zu sehen, zu tief ging es hinunter. Nur das unheilvolle, schwere Glucksen und Rauschen und der dumpfe, moosige Geruch des Wassers ließen erahnen, was auf denjenigen wartete, der von der turmhohen Kante hinab in den reißenden Fluss gestoßen wurde.
Anna drehte sich um und blickte auf die Menschenmenge. Alles wartete auf Gero von Hochstadens Befehl. Sie sah dem jungen Ritter an, dass dies der Moment war, wo er sich für die Demütigung im Kloster rächen wollte. Er wartete nur darauf, dass sie zögerte, um einen Grund zu haben, ihr sein Schwert in den Leib zu stoßen. Er trat einen Schritt auf sie zu und blickte ihr noch einmal höhnisch in die Augen. Dann holte er zum finalen Hieb aus.
In einem aufwallenden Impuls, den Gaffern und Schergen nicht den letzten Triumph überlassen zu wollen, machte Anna einen Schritt zurück über die Kante ins Leere.
Die Menge schrie auf, aber nicht vor Entsetzen, sondern weil sie sich um das Spektakel betrogen sah. Alles stürzte zum Steilufer, die Soldaten leuchteten mit ihren Fackeln hinunter, einer warf sogar seinen Scheit hinterher. Gero von Hochstaden fluchte. Für einen kurzen Augenblick sahen sie einen schwarzen Körper klatschend ins tiefe Wasser eintauchen und untergehen, dann fiel die Fackel ins Wasser und erlosch.
VIII
A ls Anna mit den Füßen voran ins grauschwarze Wasser eintauchte, hatte sie beschlossen, gar nichts zu tun und auf den Tod zu warten. Aber sie hatte nicht mit ihrem Lebenswillen gerechnet, als die plötzlich einsetzende Kälte sie mit eisigem Griff packte. Das Wasser war an dieser Stelle so tief, dass sie den Grund mit den Füßen nicht erreichen konnte. Nach Luft schnappend, kämpfte sie sich nach oben und schluckte Wasser.
Doch die Strömung war zu stark, als dass Anna dagegen ankämpfen konnte. Wenn sie es nicht schaffte, binnen kürzester Zeit ans rettende Ufer zu kommen, würden ihre Kräfte nachlassen und sie wäre endgültig verloren. Da fiel ihr ein, dass sie noch eine winzige Chance hatte: Wenn es ihr gelang, eines der zwei Seile der Fähre zu packen, die hinter der nächsten Flussbiegung auftauchen mussten, konnte sie sich ans Ufer hangeln.
Rasend schnell schoben sie die Wasserfluten weiter auf die Stelle zu, wo die Fähre liegen musste. Beinahe hätte sie den richtigen Moment verpasst, aber im letzten Augenblick fand ihre rechte Hand das quer über den Fluss gespannte Seil. Sie packte es und fasste schnell noch mit der anderen Hand nach.
Unter Aufbietung ihrer letzten Kräfte hangelte
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