Das Geheimnis der Medica: Historischer Roman (German Edition)
nicht, wie lange es dauerte, bis die Krankheit ihren Körper so weit zerstört hatte, dass sie sterben musste. Pater Urban hatte ihr einiges darüber erzählt. Woran sie sich erinnerte – und sie hatte ein ausgesprochen gutes Gedächtnis –, war, dass man mit Lepra noch jahrelang dahinsiechen konnte, bis man starb.
Vielleicht konnte sie sich zu ihren Eltern durchschlagen. Sie wollte niemanden anstecken, aber das war ein Hoffnungsschimmer. Wenn sie erst einmal dort war, würde sie wenigstens nicht verhungern. Wenn sie ein zügiges Tempo durchhielt, würde sie am Abend des nächsten Tages ihr Dorf erreichen.
Entschlossen stand sie auf und machte sich auf den Weg, die bewaldete Bergkuppe entlang nach Süden. Als kleines, unbeschwertes Mädchen war sie vor langer Zeit an der Hand ihres Vaters zum Kloster gegangen. Und nun, fast zehn Jahre später, würde sie als Bruder Marian wieder zurückkehren. Ausgestoßen, gebrandmarkt und zu einem qualvollen Siechtum bis zum Tod verurteilt. Unwillig verscheuchte sie das Selbstmitleid aus ihren Gedanken und begab sich auf den langen und beschwerlichen Weg nach Hause, nach Ahrweiler.
Die kalte Nacht verbrachte Anna im Wald und erreichte am nächsten Tag die Wied, den Fluss, den sie überqueren musste. Er war durch die Schneeschmelze in den Bergen zum reißenden Strom geworden und weit über seine Ufer getreten. Anna wusste, dass es ein oder zwei Meilen weiter eine Fähre gab, die Reisende gegen ein kleines Entgelt übersetzte. Doch sie hatte kein Geld. Aber wie sollte sie sonst auf die andere Seite kommen? Von dort aus war es nicht mehr weit zum Dorf ihrer Eltern. Anna ging am Ufer entlang weiter, was aber bald durch angeschwemmte Bäume und Wurzeln und dichtes Unterholz so beschwerlich wurde, dass sie sich für den Weg weiter oben durch den Wald entschied.
Schließlich konnte sie von einer Anhöhe im Wald aus die kleine Bucht im Fluss ausmachen, die als Landungsstelle für die Fähre diente. Zwei lange, stabile Seile, quer über den Fluss gespannt, dienten dem Fährmann dazu, das Fährboot auch bei stärkerer Strömung in der Spur zu halten, um nicht abgetrieben zu werden. Eines der Seile lief durch einen Führungsring, der an der Bordwand der Fähre angebracht war, das andere wurde als Zugseil benutzt. Das Lastboot, groß genug, um auch zwei Kühe oder zwei Pferde aufzunehmen, dümpelte am Ufer auf Annas Seite des Flusses. Die heftige Strömung zerrte an den Seilen. Aber von dem Fährmann war weit und breit nichts zu sehen. Seine Hütte lag auf der anderen Seite des Flusses, und aus dem Schornstein stieg Rauch auf, also musste er irgendwo sein. Vorsichtig näherte sich Anna dem Boot.
»Hallo – ist da jemand?«, rief sie in den Wald.
»Weg da, verschwinde!«, brüllte eine schrille Männerstimme hinter ihrem Rücken, die sie vor Schreck zusammenfahren ließ. Als sie sich umwandte, sah sie den vierschrötigen Fährmann, halb hinter einem Baum versteckt, wie er versuchte, sie mit heftigen Armbewegungen fortzuscheuchen.
»Kannst du mich übersetzen?«, fragte sie. »Für Gottes Lohn. Ich komme vom Kloster Heisterbach.«
»Bist du verrückt? Für keinen Lohn der Welt setze ich dich über! Du hast den Aussatz! Verschwinde, los, sofort!«
Anscheinend hatte er ihre Glöckchen schon lange gehört, bevor sie ihn erspäht hatte, und sich schleunigst hinter ein paar Bäumen in Sicherheit gebracht.
»Es tut mir leid, aber ich muss ans andere Ufer«, sagte sie und stieg ins Boot.
»Rühr das Boot nicht an!« Seine Stimme wurde allmählich panisch. »Die Strömung ist zu stark. Das Führungsseil wird reißen! Du kannst das Boot nicht halten. Du wirst kentern und jämmerlich ersaufen!«
»Ich habe nichts zu verlieren«, sagte Anna, während sie die Knoten der Haltetaue löste.
Der fuchtelnde Fährmann machte ein paar Schritte auf sie zu, traute sich aber doch nicht ganz an sie heran. Anna wusste, dass er sie, hätte sie nicht ihre abschreckende Kutte mit den Glöckchen getragen und den gut sichtbaren Ausschlag gehabt, in seiner Wut längst gepackt und ins Wasser geworfen hätte. Im sicheren Bewusstsein, dass sie das Boot unbehelligt losmachen konnte, hörte sie nicht auf seine Beschimpfungen, die schließlich in finstere Drohungen übergingen, und drehte ihm den Rücken zu.
Plötzlich schwirrte ein armdicker Holzprügel knapp an ihrem Kopf vorbei. Sie drehte sich um. Der Kerl hatte angefangen, mit allem auf sie zu werfen, was er in die Finger bekommen konnte, und suchte am
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