Das Geheimnis der Medica: Historischer Roman (German Edition)
dem Türspalt herein. Sie tastete sich wieder zur Tür und riss sie in einem Schwung auf.
In einem weiten Halbkreis um das Haus standen die Dorfbewohner und mitten unter ihnen fünf oder sechs bewaffnete Soldaten. Keiner sagte ein Wort, alle starrten sie nur an, als wäre sie ein Abgesandter Luzifers, was kein Wunder war, so wie sie aussah. Als sie einen Schritt nach draußen machte, wich die Menge zurück. Die Leute hielten Fackeln in ihren Händen, die nun so hell brannten, dass Anna blinzeln musste. Dem vordersten Mann stahl sich bei ihrem Anblick ein Grinsen ins Gesicht, das unverkennbar war: Gero von Hochstaden. Im Hintergrund erkannte Anna ihren Vater und ihre Mutter, die von den zwei Männern festgehalten wurden, die Gero schon im Kloster begleitet hatten. An den verzweifelten Gesichtern ihrer Eltern konnte Anna ablesen, wie es um sie stand. Aber sie blieben stumm, gaben mit keinem Wort zu erkennen, dass sie wussten, wer Anna war.
Gero trat vor, ganz der Mann, der hier das Sagen hatte. Er sprach in die schwer lastende Stille.
»So schnell trifft man sich wieder, Bruder Marian!«
Anna musterte unter ihrer Kapuze die anderen Soldaten und die im Halbdunkel stehenden Dorfbewohner. Wie konnten Gero und seine Männer wissen, dass sie hierherkommen würde? Ihre Gedanken überschlugen sich, doch dann fiel Anna siedend heiß ein, dass sie beim Verhör durch den Erzbischof im Empfangsraum des Abtes selbst gesagt hatte, dass sie aus Ahrweiler stammte. Der Erzbischof hatte seine Schergen hierhergeschickt, in der Annahme, dass sie in ihrer Not nur einen Zufluchtsort kannte: ihr elterliches Dorf. Also hatte er seinen Neffen mit ein paar Soldaten dorthin beordert, um ihr den Garaus zu machen.
Hatte Pater Sixtus sie etwa dabei beobachtet, wie sie in der Handfläche des toten Pater Urban die Buchstaben GIFT entdeckt hatte? Wollte Konrad von Hochstaden keinen Zeugen durch die Gegend laufen lassen, der wusste, dass der Infirmarius vergiftet worden war?
Mit fester Stimme antwortete sie: »Ja, Herr, ich bin Bruder Marian aus Heisterbach.«
»Was wolltest du in diesem Haus?«
»Ich hatte Hunger. Ich suchte etwas zu essen.«
»Warum in diesem Haus?«
»Ich weiß es nicht. Es war Zufall.«
Gero grinste unverhohlen: »So? Zufall? Und wer ist das?« Dabei zeigte er auf Annas Eltern.
Drei oder vier Herzschläge lang sagte Anna nichts. Dann räusperte sie sich und sagte: »Ich kenne diese Leute nicht.«
Gero schüttelte den Kopf, als fände er das, was gerade geschah, überaus betrüblich. »Das ist jetzt so oder so gleichgültig. Dadurch, dass du ihr Haus betreten hast, hast du es mit deiner Krankheit besudelt. Du weißt, was wir tun müssen.«
»Nein!«, schrie Anna. »Nein!«
Aber Gero zielte mit seiner Schwertspitze direkt auf Annas Augen und hielt sie so in Schach. »So will es das Gesetz, ob es dir passt oder nicht.«
Dann wandte er sich an die Anwesenden und sagte laut und klar, dass es alle Umstehenden hören konnten: »Bruder Marian – du hast gegen das Gesetz verstoßen. Dir ist, als Leprakrankem, bei Todesstrafe verboten, eine menschliche Behausung zu betreten. Im Namen des Erzbischofs verurteile ich dich zur Steinigung. Dorfbewohner, wenn ihr euch dem Urteil widersetzt, werden eure Häuser auf Anweisung des Erzbischofs niedergebrannt, damit das Volk vor dem Übel geschützt werde.«
Erst jetzt konnte Anna sehen, dass die Dorfbewohner Steine in den Händen hielten. Schon nahmen sie drohend Haltung an und begannen auf sie zu zielen.
Gero hob seine Hand, er hatte noch etwas hinzuzufügen.
»Doch der Erzbischof hat mich gebeten, Milde walten zu lassen, da Gott dich mit der Lepra bereits bestraft hat. So wird dir der gnädige Tod durch Ertrinken gewährt. Das Urteil wird sofort vollstreckt. Geh voraus zum Fluss. Beim geringsten Versuch zu fliehen werde ich dich mit meinem Schwert niederstrecken.«
Anna schenkte ihren Eltern noch einen verzweifelten Blick. Sie wollte etwas sagen, Gero um Gnade für die beiden anflehen, aber es war besser, den Mund zu halten. Vielleicht würden ihre Eltern mit einer geringen Strafe davonkommen. Ihr eigenes Schicksal war Anna nicht mehr wichtig, sie würde jeden Befehl Geros befolgen, wenn sie damit ihre Eltern schützen konnte. »Hast du noch etwas zu sagen?«, fragte Gero streng.
Anna schüttelte den Kopf. »Nein, Herr.«
»Dann vorwärts!«, sagte Gero.
Anna setzte sich in Bewegung, die Glöckchen ihres Umhangs klingelten laut, die Kapuze hatte sie sich tief ins Gesicht
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