Das Geheimnis der Medica: Historischer Roman (German Edition)
Ufer nach Steinen. Jetzt wurde es Zeit, dass sie wegkam. Mit einem Ruck löste sich der letzte Knoten, und schon wurde das Boot aufs Wasser hinausgezogen. Das Führungsseil spannte sich bis aufs Äußerste, und Anna zog aus Leibeskräften am Zugseil. Durch den Druck, den das Wasser ausübte, kam sie schneller voran, als sie dachte.
Das Zugseil brannte in ihren Händen, aber Anna gab nicht nach und setzte eine Hand über die andere, um das Boot hinüberzuziehen. Wenn sie wollte, konnte sie ungeahnte Kräfte entwickeln.
Fast schien sie es geschafft zu haben, da kam ein mächtiger Baumstamm, den das reißende Wasser entwurzelt hatte, auf die Fähre zugetrieben. Anna sah ihn im Augenwinkel heranschießen und verdoppelte ihre Anstrengungen.
Doch es reichte nicht. Mit voller Wucht traf der gewaltige Stamm das Heck des Bootes. Anna konnte sich gerade noch am Zugseil festklammern. Einen Moment lang glaubte sie, das Führungsseil würde reißen. Aber wie durch ein Wunder glitt der Stamm am Boot ab. Das Boot schwankte bedrohlich, aber das Führungsseil hielt. Anna zog aus Leibeskräften, als sie wieder festen Stand hatte, und brachte die Fähre schließlich sicher ans andere Ufer.
Noch ein wenig zittrig von der Anstrengung und dem Schreck, vertäute sie das Boot so gut sie konnte an dem schmalen Holzsteg und warf einen Blick zurück auf den immer noch ungläubig dastehenden Fährmann, der auf der anderen Seite des Flusses zur Untätigkeit verdammt war.
Sie sprang an Land und näherte sich der strohgedeckten Lehmhütte des Fährmanns. So eine günstige Gelegenheit, etwas Essbares zu finden, würde so schnell nicht wiederkommen. Der Hunger war stärker als Annas schlechtes Gewissen. Vorsichtig betrat sie die Hütte und sah sich um. Neben der Feuerstelle stand eine Schüssel mit kaltem Gemüsebrei, den sie gierig verschlang. Einen halben Laib Brot nahm sie auch noch mit, bevor sie flussaufwärts im Wald verschwand.
Die Abenddämmerung setzte schon ein, und Anna war inzwischen am Ende ihrer Kräfte. Jetzt konnte es nicht mehr weit sein. Eigentlich hätte sie längst Menschen aus dem Dorf begegnen oder Lichter sehen müssen. Aber die Gegend wirkte wie ausgestorben. Gut, dass wenigstens der Mond schien, der gerade am östlichen Horizont aufging und mit seinem fahlen Licht Anna den Weg wies.
Endlich konnte sie vage die ersten niedrigen Häuser ausmachen. Ahrweiler war nicht groß, ein Dutzend Hütten, wie fast überall im Land aus Flechtwerk gebaut und mit Lehm verstrichen, der teilweise schon abgebröckelt war, mit spitzgiebligen Dächern aus Stroh, die bis über die Fensterhöhlen hinausragten.
Ganz am Ende der Dorfstraße stand das Haus ihrer Eltern. Anna blieb mitten auf der Straße stehen und regte sich nicht. Seltsam, sie konnte keinen Luftzug spüren, keinen Laut hören. Keine Kuh bewegte sich in ihrem Stall, kein Hund bellte, kein Schaf blökte, kein Feuerschein drang durch eine der kleinen Fensteröffnungen nach draußen, kein Kind schrie. Anna drehte sich langsam um die eigene Achse und bekam es allmählich mit der Angst zu tun. War die Welt stehen geblieben, und sie hatte es in ihrem Wahn, nur irgendwie nach Hause zu kommen, gar nicht bemerkt?
Langsam setzte sie sich wieder in Bewegung, und die Glöckchen an ihrer Kutte bimmelten leise.
Als sie an der Tür ihres Elternhauses ankam, zögerte sie. Am liebsten hätte sie sich umgedreht und wäre davongelaufen. Plötzlich fürchtete sie, eine schreckliche Entdeckung zu machen, wenn sich die Tür öffnete. Vielleicht waren alle Bewohner des Dorfes von Plünderern getötet und das wenige Vieh, das sich die Leute hielten, war verschleppt worden. Aber nein. Solche Schreckensbilder waren sicher eine Folge des Hungers und der Erschöpfung. Es nutzte nichts, es noch weiter hinauszuzögern, jetzt war sie so weit gegangen, dass sie nun auch den letzten Schritt tun musste. Sie klopfte und machte langsam die Tür auf. Dunkelheit und Stille empfingen sie. Sie betrat das Haus, das aus einem Raum mit Schlaf- und Feuerstelle bestand. Hinter ihr fiel die Tür zu. Sie wollte an der Feuerstelle einen Kienspan anzünden, um etwas zu sehen, aber die Asche war kalt. Sie schluckte, schwarze Panik kroch in ihr hoch. Das sah ihren Eltern gar nicht ähnlich. Ihre Mutter war eine Meisterin im Feuermachen, nie würde sie die Glut ganz ausgehen lassen oder keine Holzspäne bereitliegen haben.
Anna hielt den Atem an, als sie ein Scharren hörte, es kam von draußen. Licht fiel auf einmal unter
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