Das Geheimnis der Mondsänger
nur eine ganz schwache Chance haben konnte. Ich gab dem Fremden in einem einfachen, rhythmisch wiederkehrenden Schema folgende Gedanken ein: Es besteht kein Grund zur Furcht, wenn der Gefangene nicht mehr da ist. Aber er darf nicht umgebracht werden, da die Fremdländer bestimmt nach ihm suchen. Am besten wäre es, ihn einfach freizulassen.
Zugleich tastete ich mich zur Rampe vor, die nach oben zum Eingang führte. Ich blieb nur einmal bei der Bank stehen und trank den Krug leer, dann nahm ich ihn fest in die Hand. War die Tür nach innen oder nach außen aufgegangen, als Osokun kam? Nach außen – ja, das stimmte.
Ich schaffte die Hälfte der Rampe und stand mit gespreizten Beinen da. Weiter …
Endlich war ich oben. Befreie den Gefangenen … dann ist die Angst fort … befreie den Gefangenen …
Seine Gefühle waren jetzt deutlicher. Er schien näherzukommen. Jetzt – alles hing jetzt von meinem Glück ab.
Ich hörte das Klirren von Metall – die Tür – ich hob den Krug. Jetzt!
Die Tür schwang zurück, und ich warf den Krug hinaus. Zugleich sandte ich einen harten Strahl der Angst aus. Ich hörte einen Schrei von der Gestalt, die sich dunkel gegen den grellen Lichthintergrund abzeichnete. Der Krug traf den Mann am Kopf, und er stolperte zurück.
Ich nahm meine ganze Kraft zusammen und stürzte nach draußen. Der Mann, der die Tür geöffnet hatte, lag bewußtlos da.
Mein erster Gedanke galt seinem Schwert. Ich wankte auf den Bewußtlosen zu und nahm ihm die Waffe ab. Ich konnte zwar nicht mit ihr umgehen, aber sie stärkte mein Selbstvertrauen.
Dann ließ ich den Fremden über die Rampe in die Zelle rollen und versperrte die Tür. Den Schlüssel, einen einfachen Bolzen, nahm ich an mich.
Erst jetzt hatte ich Zeit, mich umzusehen. Das Licht drang schmerzend in meine an Dunkelheit gewöhnten Augen, aber ich merkte doch, daß es Spätnachmittag sein mußte. Ich hatte keine Ahnung, wie viele Tage und Nächte ich da unten gelegen hatte.
Der Korridor war leer, im Augenblick wenigstens. Ich hatte noch keinen festen Plan gefaßt. Ich konnte lediglich versuchen, ins Freie zu gelangen, mußte aber damit rechnen, daß ich einen der Bewohner dieser Festung traf. Leider konnte ich den Weg vor mir nicht mit meinen Gedanken abtasten. Ich hatte meine Esperkräfte vollkommen erschöpft. Was ich nun vor mir hatte, mußte auf rein physischem Wege geschafft werden.
Ich wankte den Korridor entlang und horchte angespannt auf irgendwelche Laute. Der Gang machte einen scharfen Knick, an dem sich wieder einer der schmalen Fensterschlitze befand. Ich sah hinaus und entdeckte ein Stück Mauer, dazu ein breites, verschlossenes Tor. Wenn das der einzige Weg ins Freie war, durfte ich mir keine allzu großen Hoffnungen machen.
Nach dem Knick führte der Korridor nach links weiter. Türen mündeten zu beiden Seiten, und zum erstenmal hörte ich auch Stimmen. Aber ich konnte nicht umkehren. Mit dem Schwert in der Hand ging ich weiter, immer dicht an der Mauer entlang.
Die ersten beiden Türen waren geschlossen, wie ich dankbar feststellte. Aber weiter vorn hörte ich Stimmen, und als ich mich mit einem schwachen Gedankenstrahl vortastete, merkte ich, daß in einem der Räume mindestens zwei Leute sein mußten. Ich schlich weiter. Die Stimmen wurden lauter. Ich konnte einzelne Worte unterscheiden, aber ich kannte die Sprache nicht. Dem Tonfall nach zu schließen, stritten die beiden Männer.
Das Licht wurde stärker. Es fiel aus einer halboffenen Tür in den Korridor. Ich blieb stehen und sah mir die Tür genauer an. Das Schloß schien das gleiche wie an meiner Zelle zu sein. Auch die Tür öffnete sich nach außen. Ich holte vorsichtig den Verschlußbolzen aus der Tasche.
Konnte ich es wagen, die Tür zu schließen? Die Stimmen waren so laut geworden, daß ich hoffte, man würde mich nicht hören.
Ich schob das Schwert in den Gürtel und nahm den Schlüssel in die Rechte. Mit der Linken gab ich der Tür einen kleinen Stoß. Sie rührte sich nicht. Offensichtlich war sie so schwer, daß ich mich mit meiner ganzen Kraft dagegen stemmen mußte. Ich schob sie an und horchte dann. Aber die Streitenden hatten keine Zeit, um auf die Tür zu achten.
Zentimeter um Zentimeter schob ich sie zu, bis sie geschlossen war. Auf meiner Stirn stand Schweiß, als ich mit zitternden Fingern den Bolzen in die Öffnung steckte. Einen Moment lang ruckte der Mechanismus – und dann schnappte er ein. Meine schwache Hoffnung hatte sich
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