Das Geheimnis der Mondsänger
mußte.
Konnte es sein, daß mich in diesem Moment stärker als zuvor das Gefühl überkam, ich müßte nur handeln, um die große Last, die ich schon so lange mit mir herumschleppte, abzuwerfen? Wenn ja, dann hatte ich immer noch den Mut, dem Drang zu widerstehen.
Orkamor ist kein junger Mann, und die Last auf seinen Schultern ist gewichtig und wird mit den Jahren eher schwerer als leichter. Auch hat er nicht den starken, zähen Körper der Thassa. So erscheint er mir jedesmal, wenn ich ihn sehe, noch mehr verbraucht und eingefallen. Doch in ihm brennt ein starker Wille, die Not der anderen zu lindern, und der Wille wächst im gleichen Maße, wie das Fleisch schrumpft. Nach den ersten Sekunden sieht man nur noch den Geist und nicht mehr den Mann, von dem er ausgeht.
»Willkommen, Schwester.« Seine Stimme war an diesem Abend müde, dünn und flüchtig.
Ich beugte den Kopf über meinen Stab.
»Friede und Freude, Ältester Bruder.« Ich machte die drei Zeichen mit meinem Stab.
»Friede und Freude«, erwiderte er, und jetzt war seine Stimme kräftiger, als habe der Wille die Müdigkeit vertrieben. »Aber wir brauchen die Worte der Besänftigung nicht, Schwester. Ich muß dir gestehen, daß nicht alles zum besten steht.«
»Ich weiß. Ich kam durch Yim-Sin.«
»War es gut, daß du kamst, Schwester? Du kannst nichts tun, und der Anblick des Kranken umhüllt das Herz so mit Trauer, daß es sich nicht mehr daraus befreien kann. Es ist besser, wenn du dich an den geliebten Menschen in seinem vollen Mannestum erinnerst.«
Meine Hände krampften sich um den Stab, und ich wußte, daß er es sah. Aber bei Orkamor war es mir gleichgültig. Er hatte schon schlimmere Dinge gesehen.
»Ich bin nicht deshalb gekommen.« Entschlossen ging ich zum anderen Thema über. Ich erzählte Orkamor die Geschichte des Fremdlings in einfachen Worten. Ich konnte es tun, weil er kein Urteil über mich sprechen würde. Die Priester von Umphra haben eine gewisse Ähnlichkeit mit uns Thassa.
Als ich fertig war, starrte er mich an, aber ich sah kein besonderes Erstaunen in seinem Blick.
»Die Wege der Thassa sind nicht die Wege der übrigen Menschheit«, sagte er. »Du wirst an die Kosten gedacht haben, bevor du es tatest, Schwester. War dir der Fremdling soviel wert?«
»Ich mußte eine Schuld begleichen.«
»Er hätte keine Bezahlung angenommen, wenn er die Konsequenzen gekannt hätte. Aber nun muß ich dich enttäuschen – Oskolds Männer haben niemanden hierhergebracht.«
Ich war nicht allzusehr beunruhigt. »Wenn sie umkehrten, um Oskolds Erlaubnis einzuholen, haben sie die andere Straße gewählt. Wir benutzten den vorderen Weg, und er ist sehr viel kürzer, auch wenn sich die Kasi langsam bewegen.«
»Was wird, wenn sie ihn nicht bringen, Schwester?«
Ich sah den Stab an. »Sie können doch nicht…«
»Das hoffst du«, korrigierte er mich, und jetzt war Schärfe in seiner Stimme. »Nach deiner Erzählung hat Osokun die Marktgesetze gebrochen, als er diesen Mann entführte. Er hat seinen Vater in die Sache verwickelt, als er Vorlund in der Grenzfestung gefangenhielt. Vielleicht halten sie es für besser, ihn zu töten und die Leiche zu verbergen. Dann muß der Feind beweisen, daß sie das Verbrechen begangen haben.«
»Aber er stand doch …«
»Unter dem Schutz Umphras? Wer ein Gesetz gebrochen hat, findet es leichter, auch das nächste zu brechen.«
»Daß sie das Marktgesetz brachen, ist noch verständlich – aber das Gesetz Umphras?«
»Du denkst wie eine Thassa.« Seine Stimme war jetzt sanfter, als müsse er mir gut zureden. »Deine moralischen Vorstellungen sind so fest, daß kaum jemand sie erschüttern kann. Aber, Schwester, was hast du getan, als der Mond drei Ringe hatte?«
»Ich habe das Gesetz gebrochen, ja, und ich werde mich dafür verantworten. Vielleicht ist der Grund für die Tat stärker als die Tat selbst. Du kennst das Rechtsempfinden meines Volkes.«
»Vergiß nicht, daß die Furcht eine Peitsche ist, von der die Menschen gepeinigt werden. Wenn die Furcht groß genug ist, rennt sie Menschen- und Gottesgesetze nieder. Ich habe schon von Oskold gehört. Er ist ein harter, tapferer Mann. Osokun ist sein einziger Erbe, und das war schlecht für den Jungen. Denn sein Vater liebt ihn zu sehr. Glaubst du, daß Oskold einfach zusehen wird, wenn man seinen Sohn ächtet?«
»Aber wie könnte er die Tat verbergen?«
»Das Wissen und der Beweis für dieses Wissen sind zweierlei Dinge. Der einzige Beweis für
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