Das Geheimnis der Mondsänger
den Zeltvorhang und ließ uns ein.
3
Es waren keine Sitze da, sondern mehrere breite Plattformen, die an einer Seite des Zeltes stufenförmig angeordnet waren. Man konnte diese Aufbauten schnell wieder zerlegen, wenn die Reise weiterging.
Den Zuschauerrängen gegenüber war die im Moment leere Bühne. Stoffbahnen von der Farbe des Banners bildeten den Hintergrund. Mondlaternen strahlten am mittleren Mast. Die Einrichtung war einfach und doch irgendwie elegant, und sie hatte so gar nichts von einer gewöhnlichen Tierschau an sich.
Wir waren gerade rechtzeitig gekommen, denn eine Falte des Stoffhintergrunds bewegte sich, und der Dompteur trat vor das Publikum. Es war noch früh, dennoch hatten sich viele Leute, vor allem viele Kinder, eingefunden.
Dompteur? Nein, es war eine Frau, auch wenn sie eine männlich geschnittene Jacke, Hosen und hohe Schaftstiefel trug. Der Kragen ihrer Jacke war im Nacken hochgestellt und wirkte steif wie ein Fächer. Am Rand schimmerten kleine Funken rubinroten Lichtes, in der gleichen Farbe wie ihre Stiefel und der breite Gürtel. Sie trug auch ein ärmelloses enges Jäckchen aus dem goldroten Pelz, den ich am Vormittag in der Ausstellungshalle bewundert hatte. Statt der üblichen Dompteurpeitsche hatte sie einen zierlichen Silberstab, mit dem sie sich im Notfall kaum verteidigen konnte. Auch ihr Haar schimmerte silbern, und sie hatte es mit blitzenden Rubinnadeln hochgesteckt. In dem Dreieck ihrer Stirn, das von den hochgezogenen Augenbrauen und dem Haaransatz gebildet wurde, befand sich eine Arabeske aus Silber und Rubinen, die an ihrer Haut befestigt schien, denn sie verrutschte kein einziges Mal, wenn die Frau den Kopf bewegte. Ein Hauch von Sicherheit und Selbstvertrauen strömte von der Frau aus, und man hatte den Eindruck, daß sie wie eine Königin über ihre Tiere herrschte.
Griss hielt den Atem an. »Eine Mondsängerin!« Sein Ausruf verriet Ehrfurcht, ein Gefühl, das es selten bei uns Handelsschiffern gibt. Ich wollte ihn fragen, was er damit meinte, doch im gleichen Moment machte die Frau auf der Bühne eine Bewegung mit dem Silberstab, und das Murmeln der Menge verstummte.
»Freesh und Freesha …« Ihre Stimme war ein dunkles Gurren, und vom ersten Wort an wollte man immer nur zuhören. »Seid freundlich zu meinem kleinen Volk, das euch nur Freude bereiten will.« Sie trat an den Rand der Bühne und winkte wieder mit dem Stab. Der Vorhang im Hintergrund hob sich ein Stück, und sechs kleine Geschöpfe kamen auf die Bühne. Ihr Pelz war kurz und dicht und von einem makellosen Weiß. Sie liefen auf den Hinterpfoten und hielten mit den Vorderpfoten, die an menschliche Hände erinnerten, kleine rote Trommeln fest. Sie hatten runde Köpfe und spitz zulaufende Ohren. Wie bei ihrer Herrin wirkten die Augen zu groß im Verhältnis zum übrigen Gesicht. Ihre Nasen waren breit und die Schnauzen rund. Die buschigen, seidig glänzenden Schwänze waren steif aufgerichtet.
Die Tierchen stellten die Trommeln ab und setzten sich auf die Hinterpfoten. Vielleicht hatte ihnen die Frau ein Zeichen gegeben, das mir entgangen war, denn sie begannen in einem ganz bestimmten Rhythmus zu trommeln.
Wieder hob sich der Vorhang, und etwas größere Tiere kamen zum Vorschein. Sie bewegten sich etwas langsamer, aber genau im Takt zu den Trommeln. Durch ihren filzigen, dunkelbraunen Pelz, die langen, schmalen Ohren und die spitz zulaufenden Schnauzen wirkten sie grotesk und vollkommen fremdartig. Nun schwangen sie die Köpfe im Rhythmus hin und her.
Aber sie dienten nur als Reittiere für eine andere Gruppe: Die Reiter hatten hellbraune kleine Köpfe mit dunkleren Ringen um die Augen, fragende Blicke und steif erhobene Schwänze. Sie benutzten ihre Vorderpfoten ebenfalls wie Hände.
Die Reitpferde mit ihren Tapirnasen und die Reiter mit den Ringen um die Augen kamen feierlich in den Vordergrund. Und was danach geschah, war reine Zauberei. Ich habe schon Tiervorführungen auf den verschiedensten Welten erlebt, aber das war etwas vollkommen Neues. Ich hörte weder einen Peitschenknall noch einen Befehl ihrer Herrin. Sie spielten, als führten sie nicht irgendwelche eingelernten Tricks vor, sondern als handelte es sich um eine Zeremonie, die nur sie selbst etwas anging. Von den Zuschauern kam kein Laut. Man hörte nur das Trommeln der kleinen Pelzgeschöpfe und die komplizierten Tonfolgen, die die anderen Tiere hin und wieder ausstießen. Die Tiere mit den langen Schnauzen und ihre Reiter
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