Das Geheimnis der Monduhr: Roman (German Edition)
Jocelyn war nur mühsam davon abzubringen, wieder Nachtwache zu halten. Holly blieb dabei: Die Sache sei erledigt, ihr Leben habe eine andere Wendung genommen und Jocelyn könne erleichtert aufatmen. Jocelyn seufzte eher resigniert als erleichtert, aber sie willigte schließlich ein, Holly ihren neuen Weg allein gehen zu lassen.
Und Holly wusste ganz genau, wohin sie ihr Weg führen würde, zumindest in dieser Nacht. Kaum war der Mond aufgegangen, war sie schon auf dem Weg nach draußen. Sie musste die letzten Zweifel ausräumen, und wenn sich
herausstellen sollte, dass der Blick in die Zukunft ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigte, war es zweifellos die Strafe für die Entscheidung, die sie gerade gefällt hatte.
Die Nacht war kalt und stürmisch. Aufgetürmte, vom Mondlicht erhellte Wolkenberge jagten über den Himmel und gaben den Blick auf das zaghafte Glitzern der Sterne frei, das der Mond mit seinem grellen Licht überstrahlte. Holly stand mit klopfendem Herzen vor der Monduhr. Warum um alles in der Welt ließ sie sich noch einmal auf dieses Spiel ein? Aber ihr innerer Tumult brachte ihr wieder in Erinnerung, wie viel von der Monduhr abhing. Sie musste einfach wissen, was für ein Leben sie erwartete. Würde sich das Opfer überhaupt gelohnt haben?
Das Tauwetter hatte den verwilderten Rasen und das Unkraut unter der vereisten Schneedecke zum Vorschein gebracht. Die Temperaturen waren nicht mehr ganz so frostig, doch es war immer noch bitterkalt, und Holly zog den Reißverschluss ihrer Winterjacke bis unters Kinn. Sie hielt die Glaskugel in der Hand, aber sie hatte noch nicht gewagt, diese in die Halterung fallen zu lassen. Sie ließ die Kugel in ihrem Handschuh hin und her rollen, wo sie im Mondlicht glitzerte. Gebannt verfolgte Holly, wie sie mal diesen, mal jenen Weg in ihrer Handfläche nahm, dann plötzlich wich die Kugel von ihrer Bahn ab und fiel herunter, an den Ort, den das Schicksal ihr bestimmt hatte, mitten ins Herz der Monduhr.
Es war eine Sache von Sekunden, so dass Holly keine Zeit mehr blieb, sich auf das aufblitzende Strahlengewitter
einzustellen. Ihre Augen weiteten sich, als die Halterung sich gierig um die glitzernde Kugel schloss, und sie war für einen Moment geblendet. Sie musste sich auf ihre übrigen Sinne verlassen, um herauszufinden, wie ihre Umgebung beschaffen war. Als Erstes fiel ihr der Temperaturunterschied auf. Die Nacht war plötzlich milde und duftete nach Sommer. Holly rührte sich nicht, sie zog nur die Handschuhe aus und machte den Reißverschluss ihrer Jacke auf. Dann tastete sie nach der Monduhr, die sich warm und vertraut anfühlte.
Blinzelnd öffnete Holly die Augen und blickte sich im Garten um. Er war vom Licht des Vollmonds erleuchtet, der ihr auf der Reise ins Unbekannte gefolgt war, und vom elektrischen Licht, das durch das Küchenfenster fiel. Hollys wildes Herzklopfen stolperte kurz, als sie daran dachte, was ihr möglicherweise bevorstand. Einen Augenblick überlegte sie, ob sie einfach stehen bleiben sollte. In den letzten Wochen hatte sie die Hölle durchgemacht, wer konnte wissen, welcher Alptraum sie diesmal erwartete. Im Grunde genommen hatte sie kein Bedürfnis, noch einmal in die Zukunft zu blicken, aber sie hatte gerade ihre Tochter geopfert und musste einfach wissen, wofür. Sie musste endlich wissen, ob sie noch ein Kind haben würde, das vor der Monduhr und ihren Visionen sicher war.
Holly ging langsam über die Wiese auf die Hintertür zu. Sie schwitzte und ließ die Jacke achtlos auf den Boden fallen. Sie holte einmal tief Luft, um sich zu beruhigen, als sie die Tür öffnete und ihre Zukunft betrat. Bei dem Anblick, der sich ihr bot, stockte ihr der Atem. Die Küche war der reinste Quell der Hoffnung, Babyflaschen waren
zu sehen und ein Hochstuhl, der an den Tisch gerückt war.
Mit zitternden Händen wühlte Holly auf dem Küchentisch nach einer Zeitung, fand aber nur eine Gasrechnung. Sie war vom Juni 2012. Die Monduhr zog Holly also nach wie vor achtzehn Monate in die Zukunft. Wie betäubt starrte sie auf das Datum und dann auf den Hochstuhl. Tausend Fragen gingen ihr durch den Kopf. Doch Holly interessierte nur eine einzige. Es war nicht die Frage, ob sie noch mehr Kinder bekommen würde, nicht einmal, ob sie bei der Geburt sterben würde. Sie wollte nur wissen, ob das Kind, das diesen Hochstuhl benutzte, Libby war. Holly war schon auf dem Sprung zur Tür, die zum Flur führte, als das Licht flackerte und ausging. Die Küche
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