Das Geheimnis der Monduhr: Roman (German Edition)
war, als ihr Vater zum Gegenangriff überging. Er schob seine Frau beiseite, sagte, dass er nicht im Traum daran denke zu verschwinden. Wenn sie die Scheidung wolle, müsse sie selber ausziehen. Holly hatte sich keinen Augenblick der Illusion hingegeben, dass sie irgendeine Rolle dabei spielte. Es ging ihrem Vater ums Haus, das er nicht aufgeben wollte. Holly hielt die Luft an, als die beiden sich in eisigem Schweigen anstarrten, bis sich schließlich ein Lächeln auf dem Gesicht von Hollys Mutter
ausbreitete. Triumphierend zuckte sie mit den Schultern, ließ ihren sprachlosen Ehemann stehen, verschwand im Wohnzimmer, wo sie den Koffer hinterm Sofa hervorzog, und war auf dem Weg zur Haustür. An Holly lief sie achtlos vorbei. Kein entschuldigendes Wort, kein schlechtes Gewissen, nicht einmal ein Abschiedsgruß. Ihr letztes Wort galt Hollys Vater. »Endlich kann ich wieder leben.«
Kaum hatte Holly die Erinnerung verscheucht, tauchte eine andere auf. Holly sah sich wieder mit Libby auf dem Arm, in demselben Zimmer, in dem sie sich gerade befand. Sie hatte ihrer Tochter versichert, dass sie sie liebte, hatte sie um Verzeihung gebeten, aber machte sie das wirklich zu einer besseren Mutter? Als Antwort kauerte Holly sich noch mehr zusammen, bis sie kaum mehr atmen konnte. Sie blickte auf die Stelle, wo sie gestanden hatte, am Fenster, dessen Jalousie jetzt offen stand, und die Dunkelheit dahinter legte sich auch über ihre Seele. Sie erinnerte sich an Toms eingefallenes Gesicht, das sich in der Scheibe gespiegelt hatte, erinnerte sich, wie er gesagt hatte, er sei am Ende. Es war dieses Bild, an das Holly sich klammerte, und das Einzige, was sie davon abhielt, nach dem Koffer zu greifen und ihn für die Reise nach Singapur zu packen. Mit Toms Gesicht vor Augen fand sie schließlich, was sie für unmöglich gehalten hatte. Schlaf.
Erst das hartnäckige Klingeln des Telefons ließ Holly hochfahren. Ächzend rappelte sie sich von ihrer Decke auf und schleppte sich mit steifen Gliedern zum Telefon im Schlafzimmer.
»Hallo?«, brachte sie heiser heraus. Ihre Kehle war wie zugeschnürt.
»Holly? Bist du dran?« Es war Tom.
Holly wurde ganz flau im Magen, als sie daran dachte, dass sie sich jetzt entscheiden musste.
»Ja, ich bin’s«, krächzte sie. Sie sah auf die Uhr. Es war halb sieben, in einer knappen Stunde sollte sie sich eigentlich auf den Weg zum Flughafen machen.
»Geht’s dir nicht gut? Du klingst ja furchtbar. Bist du krank? Kannst du überhaupt fliegen?« Tom klang zunehmend besorgt.
Jetzt, dachte Holly. Jetzt war der Augenblick gekommen, an dem sie sich von Libby verabschieden musste. »Tom!« Sie schluchzte fast. »Ich kann nicht.«
»Um Gottes willen. Was hast du denn? Du machst mir richtig Angst.«
Holly versuchte, sich zusammenzureißen. Sie atmete tief durch. Sie tat es für Tom, sagte sie sich immer wieder.
»Ich kann nicht kommen.« Ihre Stimme klang immer noch heiser, aber sie ließ keinerlei Regung erkennen.
Eigentlich hatte sie das Wetter vorschieben wollen, das sie zu Hause festhielt. Ein neuerlicher Frosteinbruch hatte das Land praktisch lahmgelegt, und sie brauchte Tom sicher nicht lange davon zu überzeugen, dass sie nicht reisen konnte, auch wenn schon Tauwetter angesagt war. Aber da Tom sofort angenommen hatte, dass sie krank sei, ließ sie ihn in dem Glauben. Es war ihr mehr oder weniger gleichgültig, dass sie log; es gab Schlimmeres, was ihr Gewissen belastete. Sie war gerade dabei, das Leben ihres Kindes zu opfern, und konnte förmlich hören, wie die Feder
über das Papier kratzte, als die Zukunft umgeschrieben wurde.
Tom ahnte nichts davon und machte sich nur Sorgen um Hollys Gesundheit. Er ließ sich seine Enttäuschung nicht anmerken, nahm ihr das Versprechen ab, im Bett zu bleiben und zur Not Jocelyn um Hilfe zu bitten. Es sei ja nicht das letzte Weihnachten, meinte er, und Holly fragte sich, wie diese zukünftigen Weihnachtsfeste aussehen mochten, die sie sich erkauft hatte. Würden sie überhaupt noch zusammen sein?
Sie hatte erwartet, erleichtert zu sein, als sie das Telefon auflegte. Die Entscheidung, mit der sie sich seit Wochen gequält hatte, war endlich gefallen. Von einem Gefühl der Erleichterung konnte jedoch keine Rede sein. Eigentlich wollte sie überhaupt nichts fühlen, nur die grenzenlose Leere.
Jocelyn ließ sich weniger schnell davon überzeugen, dass sie sich um Holly keine Sorgen machen musste. Beide wussten, dass es eine Vollmondnacht war, und
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