Das Geheimnis der Monduhr: Roman (German Edition)
wiederholte Holly seufzend. »Oh, Jocelyn, ich werde sie nie wiedersehen. Wie soll ich mir das jemals verzeihen.« Die Last ihrer Entscheidung bedrückte sie, doch sie erlaubte sich keine Tränen, weil sie glaubte, kein Recht auf die Erleichterung zu haben, die sie bringen würden.
Auch Jocelyn war den Tränen nahe. »Dann bleibe ich über Weihnachten auch hier. Kommt nicht infrage, dass du allein hier sitzt.«
»Und Paul? Er freut sich doch auf dich?«
»Er hat mich für den ersten Feiertag eingeladen – mehr nicht. Die übrige Zeit würde ich im Hotelzimmer hocken und darauf warten, dass er mich noch mal einlädt. Ich habe mich nicht getraut, es zu dir sagen, ich habe mich zu sehr geschämt. Es ist seine Form von Rache, nehme ich an.«
»Rache? Paul sollte sich glücklich schätzen, dass er so eine Mutter hat. Wenn ich den erwische, setzt es was, das schwöre ich.«
Jocelyn musste lachen, aber ihre Augen behielten den bekümmerten Ausdruck. »Ich habe mein Recht, seine Mutter zu sein, verwirkt. Nicht nur, weil ich Harry etwas angetan habe. Um mich zu retten, habe ich ihn den Launen eines herzlosen und gewalttätigen Vaters ausgesetzt. Die Monduhr hat mir mein Leben geschenkt, aber nicht meinen Sohn. Er hat noch eine Rechnung mit mir offen.«
»Du bist kein schlechter Mensch, Jocelyn. Kein Wort mehr über offene Rechnungen. Wenn er das nicht begreift, kann er mir gestohlen bleiben.«
»Also, ich bleibe hier, und damit basta. Ich rufe Paul an und sage ab. Wahrscheinlich ist er erleichtert.«
»Ich werde wohl auch zum Telefon greifen müssen«, seufzte Holly. »Allerdings sage ich Tom erst in letzter Minute ab. Ich habe keine Lust auf tagelange Diskussionen und Überredungsversuche. Weihnachten ist sowieso schon im Eimer.«
»Es wird ja nicht das letzte Weihnachtsfest sein, wenn ich dich daran erinnern darf.«
Holly lächelte tapfer, aber es war ein aufgesetztes Lächeln, an das sie sich wohl in Zukunft gewöhnen musste. Libby hatte mütterliche Gefühle in ihr geweckt, und Holly war selber überrascht, wie bereitwillig sie diese Gefühle gehätschelt und gepflegt hatte. Mit bewährter Routine verdrängte sie all ihre Träume und Hoffnungen, Mutter zu werden, und mit der Zeit würde die Saat, die ihre Tochter ausgestreut hatte, sicherlich verkümmern und zugrunde gehen.
Holly stürzte sich mit Feuereifer auf die Arbeit an Mrs Bronsons Skulptur. Nicht, weil der Abgabetermin drängte oder die Erlösung von Mrs Bronson winkte. Der Grund war, dass Holly sich schämte, in Bezug auf ihre Tochter versagt zu haben, und sie die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte. Als das fertige Stück am Tag vor Hollys geplantem Abflug nach Singapur versandt war, schloss sie das Atelier ab. Die große Skulptur stand noch dort; Holly hatte jedoch ein Tuch darübergeworfen, weil sie das Gefühl hatte, dass die Generationen der Mütter sie mit vorwurfsvollen Blicken verfolgten.
Die emotionale Mauer, hinter der Holly sich verschanzt hatte, war stark genug, um den Tag zu überstehen, aber in der Nacht vor dem Abflug konnte sie nicht schlafen. Sie lief im leeren Haus auf und ab, eine Decke um die Schultern gewickelt, und hätte sich am liebsten irgendwo in einer Ecke verkrochen. Wenn sie an das Telefonat mit Tom dachte, das noch ausstand, wurde ihr übel. Sie wollte
ihn in aller Frühe anrufen und ihm sagen, dass sie ihre Pläne geändert hatte.
Die Morgendämmerung war noch lange nicht in Sicht. Holly betrat den Abstellraum, der nun niemals Libbys Zimmer werden sollte. Er war kalt und kahl und leer. Sie hockte sich in einen Winkel zwischen aufgestapelten Kartons und dem Koffer, den sie schon längst hätte packen sollen, zog die Knie unters Kinn und legte die Arme darum, um sich festzuhalten und das schreckliche Gefühl loszuwerden, nichts in den Händen zu haben.
Der Koffer, an den sie ihren Kopf lehnte, war kalt. Er war aus dunkelbraunem Leder, aber er weckte Erinnerungen an einen bunt karierten Koffer aus Hollys Kindertagen, den ihre Mutter hinter dem Sofa versteckt hatte, als sie ihre Familie verlassen wollte. Entsetzt hatte Holly mit ansehen müssen, wie ihre Mutter an der Haustür ihren Mann erwartete. Sie verwehrte ihm den Zutritt, verlangte die Scheidung, brüllte ihn an, dass er an allem schuld sei, dass er sich von seiner Tochter verabschieden und aus ihrem Leben verschwinden solle. Die Vorstellung, mit ihrer Mutter allein bleiben zu müssen, versetzte Holly in Panik, weshalb sie fast erleichtert
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