Das Geheimnis der Perle
Denver umsteigen.“
„Nein, davon hat er nichts gesagt. Er wollte nur mit dir sprechen.“
Liana ließ sich ihre Verärgerung nicht anmerken. „Nun, da hat er Pech gehabt. Graham und ich müssen in zehn Minuten zu einem Interview.“
Frank wandte sich ab. „Ich habe ihm gesagt, dass du einen Termin hast und vielleicht nicht erreichbar bist.“
Erneut sah Liana ihn an. „Und was hat er gesagt?“
„Zur Hölle mit diesem verdammten Termin!“, erwiderte Frank mit australischem Akzent. An der Tür drehte er sich noch um. „Hältst du es für eine gute Idee, deinen Ex so abblitzen zu lassen? Vielleicht hat er ja etwas Wichtiges mit dir zu besprechen.“
Liana dachte an all die Diskussionen mit Cullen – während ihrer Ehe und in den zehn Jahren, seit sie geschieden waren. Ein ganzes Jahrhundert stand zur Debatte, in denen die Robesons und Llewellyns sich gegenseitig umgebracht und betrogen hatten. Lianas und Cullens Liebe stand von Anfang an unter einem unglücklichen Stern. Trotzdem hatte es eine Zeit gegeben, als sie beide glaubten, die dunklen Schatten der Vergangenheit bezwingen zu können.
Aber sie hatten sich geirrt.
Frank wurde allmählich ungeduldig. „Was ist denn jetzt, Liana?“
„Sollte ich noch da sein, wenn Cullen das nächste Mal anruft, sag Carol, dass sie ihn zu mir durchstellen kann. Ansonsten soll er mich heute Abend zu Hause anrufen. Carol soll sich inzwischen mit Matthew in Verbindung setzen. Vielleicht findet sie ja heraus, ob er gut gelandet ist.“
Kaum war Frank verschwunden, sackten ihre Schultern herab. Sie konnte nicht einmal tief durchatmen, schon klopfte es, und Graham erschien in der Tür.
Liana winkte ihn herein. Sie und ihr Stiefbruder warenkeine Freunde, dafür hatte ihr Vater gesorgt. Aber sie akzeptierten einander, weil sie beide unter Thomas gelitten und ihn doch überlebt hatten. Der blonde Graham, der mit seinen vierzig Jahren immer noch gegen seinen Babyspeck ankämpfte, hatte keinerlei Ähnlichkeit mit Liana. Und doch gab es eine Gemeinsamkeit: die Verbindung zu dem verachtenswerten Mann, der sie beide aufgezogen hatte.
Graham schloss die Tür und lehnte sich dagegen. „Jonas hat vor einer Weile angerufen.“
Jonas Grant war Reporter beim San Francisco Chronicle und für den Wirtschaftsteil zuständig. Liana zuckte die Schultern. „Ich habe ihm Unterlagen über all unsere derzeitig laufenden Projekte geschickt. Zumindest die, von denen er wissen darf. Braucht er noch mehr?“
„Er will, dass du die Perle mitbringst.“
Einen Moment starrte Liana ihn sprachlos an. Es gab nur eine Perle, die Graham meinen konnte: die Köstliche Perle, die Pearl of Great Price , benannt nach einer Heiligen Schrift. Die Perle, die über Jahrzehnte zwischen ihren und Cullens Vorfahren hin und her gegangen war, seit man sie im Indischen Ozean gefunden hatte. Die Perle, die das Logo ihrer Firma zierte.
„Soll das ein Scherz sein?“, sagte sie schließlich.
„Nein. Er meinte, die Perle wäre ein guter Aufmacher für seinen Artikel. Sie wollen ein Foto davon machen.“
Liana verfiel in Schweigen und dachte über Grants Anfrage nach. Erneut stieg Panik in ihr auf. Sie ging zum Fenster und warf einen Blick auf die Stadt und die Bucht davor.
„Ich nehme sie nur ungern in die Hand, Graham.“ Die Perle hatte eine turbulente Geschichte hinter sich. Sie war einzigartig in ihrer makellosen Schönheit, und doch hatte sie niemandem Glück gebracht. Und gerade heute, wo Matthew zur Ostküste aufgebrochen war, wollte Liana die Perle nicht anfassen. Sie drehte sich wieder um. „Ich kann sie ja nichteinfach zu meinem Lippenstift in die Handtasche stecken.“
Graham nickte verständnisvoll. „Wenn du sie wirklich nicht anfassen willst, kann ich das für dich tun. Es ist doch nur eine Perle.“
Die Tür fiel hinter Graham ins Schloss. Liana wartete einen Moment, ehe sie das Büro durchquerte und sie absperrte. Dann lehnte sie sich dagegen und starrte auf den Druck von Georgia O’Keeffe, der an der Wand neben ihrem Schreibtisch hing. Zum ersten Mal seit ihrer Rückkehr war es still in diesem Raum, nur der Verkehrslärm drang gedämpft von unten herauf. Doch Liana war hier trotz der verschlossenen Tür nie richtig allein. Das Büro hatte ihrem Vater gehört. Und obwohl Lianas Innenarchitekt sein Bestes gegeben hatte, hing immer noch Thomas Robesons Geist über allem. Schlimmer noch: Hinter der Wand lag der greifbare Beweis dafür, dass manche Dinge unvergänglich waren.
Verbittert
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