Das Geheimnis Der Pilgerin: Historischer Roman
gehortet wurden - er war inhaltlich eher uninteressant. Gerlin sah, dass er Steuerauflistungen beinhaltete. Wenn diese verloren gingen - sei's drum!
Vorsichtig arbeitete sie sich nach vorn vor, bis sie direkt hinter dem Bock hockte. Dann holte sie mit aller Kraft aus und schlug dem Archivar den Folianten über den Kopf. Die Wirkung war schwach, der Mann trug noch seinen Helm, aber er wandte sich doch erschrocken um, und Gerlin nutzte ihre Chance ein weiteres Mal. Diesmal traf das Buch sein Gesicht, das Visier hatte der Archivar bereits aufgeklappt, um in der Dämmerung besser sehen zu können. Natürlich hätte ihn auch dieser Schlag nicht ernstlich verletzt, aber er verlor doch einen Herzschlag lang die Kontrolle über die verschreckten Pferde. Die Tiere folgten seiner ungeschickten Lenkbewegung nach links in den Wald und rasten zwischen zwei Bäumen hindurch, deren Äste den Ritter vom Bock schleuderten. Gerlin konnte sich im letzten Moment ducken. Sie zog den Kopf ein, während die Pferde unkontrolliert weiterrannten. Doch schon bald wurden sie vom dichten Unterholz gestoppt. Als der Wagen endgültig zwischen zwei Tannen festhing, ergaben sich die Tiere in ihr Schicksal, blieben stehen und begannen zu fressen.
Gerlin schaute ängstlich nach Sirene aus, aber der Maultierstute war nichts passiert. Sie wirkte lediglich etwas indigniert, war sie es doch nun wirklich nicht gewöhnt, an einen Wagen gebunden und dann noch in rasendem Galopp von ihm mitgezerrt zu werden. Umso besser gelaunt zeigte sich Dietmar. Das Kind war von der wilden Fahrt erwacht, hatte das Geschaukel allerdings wieder einmal lustig gefunden. Der Kleine brabbelte vergnügt auf Gerlin ein, als sie ihn aufhob und an sich zog.
Auf der Straße klirrten immer noch Waffen, aber es wurde schon ruhiger. Und unter dem Bock regte sich der verängstigte Kutscher.
»Könnt Ihr den Wagen hier herauslavieren?«, fragte Gerlin, als der Mann sich aufrichtete.
Sie war sich nicht sicher, wie viel er von ihrem Kampf mit dem Archivar mitbekommen hatte, aber anscheinend hegte er ihr gegenüber keine Ressentiments. Stattdessen lamentierte er nur laut über den Zustand seines Karrens und sprach dann beruhigend auf die Pferde ein.
»Versuchen kann ich's ja. Steigt einmal aus, Herrin, vielleicht müsst Ihr schieben ...«
Der Kutscher und Gerlin mühten sich noch mit dem Wagen ab, als sie ein mühsames Keuchen hinter sich hörten. Gerlin erschrak zu Tode. Sie hatte auf Florís und seine Ritter gehofft, aber tatsächlich hinkte der Archivar durchs Unterholz auf sie zu. Als er den Wagen erreichte, riss er sich den Helm vom Kopf.
»Nimm das Mädchen fest!«, befahl er dem Kutscher. »Und lass das mit den Pferden, wir kriegen den Wagen niemals rechtzeitig hier raus. Hilf mir lieber!«
Der Ritter begann, in den Dokumenten im Wagen zu wühlen - Gerlin hoffte, dass bei der wilden Fahrt einiges durcheinandergeraten war. Wenn der Ritter allerdings genau wusste, wo er suchen musste, und die fraglichen Briefe nicht fand ...
Gerlin warf einen Blick auf den unschlüssigen Kutscher. Er wusste offensichtlich nicht, was genau von ihm erwartet wurde - schließlich konnte er nicht gleichzeitig Gerlin bewachen und die Schriften in Empfang nehmen, die der Archivar eben hektisch aus dem Wagen zerrte.
»Verbrennen! Schnell!«
Die neue Anweisung brachte den Kutscher noch mehr in Verlegenheit. Gerlin jedoch nutzte die Gelegenheit - während sich der Mann dem Wagen zuwandte, flüchtete sie ins Buschwerk und rannte zurück auf den Weg. Dietmar quengelte und zappelte in ihrem Arm, er wurde langsam zu schwer, um gegen seinen Willen irgendwohin getragen zu werden.
Aber dann hörte Gerlin Stimmen und Hufschlag: Florís und seine Ritter hatten ihren Kampf siegreich beendet - oder doch zumindest die Gegner in die Flucht geschlagen. Jetzt folgten sie den Spuren des Planwagens und stritten sich heftig.
»Ich versteh nicht, warum wir den Reitern nicht nachsetzen!«, schimpfte einer der Ritter. »Wir könnten sie einholen und den König doch noch gefangen nehmen.«
»Der König ist längst über alle Berge!«, antwortete Florís mit klarer Stimme und in sehr bestimmtem Ton. »Himmel, Guillaume, der und seine Getreuen haben sich doch gleich in Galopp gesetzt, als wir angriffen. Die kriegst du nie, zumal nicht jetzt gegen Abend. Wenn es dunkel wird, ist die Gefahr eines Hinterhalts viel zu groß. Besser, wir sichern das Kronarchiv und das königliche Siegel! Wenn wir schon nicht ...«
Florís
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