Das Geheimnis der Puppe
Als Frau Greewald sie mit Steiner auf der Treppe fand, sah sie auch nicht lebendig aus. Aber sie lebt. Sie lebt seit Wochen bei uns. Sag es ihm, Tom. Sag ihm, daß wir das Kind behalten wollen.«
Bei der Tür blieb Bert stehen. Ich ging einen Schritt weiter. Laura legte eine Hand auf die eingesunkene Brust.
»Und ich sorge gut für sie. Tom wird dir das bestätigen. Sie ist gerne bei mir. Weißt du überhaupt, wer das ist.«
Und bevor Bert darauf antworten konnte, schrie Laura:»Das ist Anna, den Namen habe ich ihr gegeben. Früher hatte sie keinen. Sie ist meine Schwester. Sie ist nie richtig gestorben. Mutti hat sie damals hier zurückgelassen. Und all die Jahre hat sie darauf gewartet, daß Mutti zurückkommt. Aber Mutti konnte nicht, an ihrer Stelle kam ich.«
Bert schloß für Sekunden gepeinigt die Augen, murmelte:»Hör doch auf damit.«
Laura lachte freudlos auf.
»Warum? Man muß das einmal sagen. Als du Mutti damals hier abgeholt hast, als sie noch ein paarmal zurück ins Haus lief, wo, denkst du, ist sie da hingelaufen? Anna war nicht tot. Sie war da drin. Und Mutti wollte nicht, daß sie stirbt. Sie hat sich davon überzeugt, daß es ihr gut ging. Und sie hat sich darauf verlassen, daß Steiner sich anschließend um seine Tochter kümmert. Aber Steiner hat einen Riegel gekauft und ein paar Krampen. Steiner hat einen Hammer genommen und die Krampen in die Mauer geschlagen. Frau Greewald hat mir das erzählt.«
Laura schaute mit verlorenem Blick an Bert vorbei zur Klappe.
»Sie hat mir viel erzählt, obwohl es ihr nicht leichtfällt, darüber zu reden. Sie hat ja noch ein paar Jahre hier gearbeitet, und sie sagte: ›Ich habe mich schon gewundert über den Riegel, aber ich habe mich nie getraut, nach dem Kind zu fragen.‹ Ihr kann man wahrscheinlich keine Vorwürfe machen.«
Bert stand nur da und preßte die Lippen aufeinander. Lauras Hände glitten immer wieder über die Pergamentwangen, strichen über den eingefallenen Brustkorb. Länger als eine Stunde redeten wir abwechselnd auf sie ein. Ohne Erfolg. Vielleicht hätten wir noch am Morgen so bei der Tür ihres Zimmers gestanden, wäre nicht Danny dazugekommen. Die tapsigen Schritte im Gang brachten Laura zur Vernunft. Die verschlafene Stimme tat ein übriges.
»Tessa weint schon ganz lange.«
Da schlug Laura die Decke über das Kind und erhob sich.
»Ich komme gleich«, sagte sie, »ich muß mir nur rasch die Hände waschen.«
Sie ging in den Waschraum. Danny stand mit halboffenem Mund vor Bert.
»Was machst du denn hier, Opa.«
»Nur einen Besuch.«
Bert lächelte und strich ihm über das zerzauste Haar.
»Ich fahre gleich wieder nach Hause.«
Dann fiel Dannys Blick auf das Bett.
»Ist Anna krank.«
»Ja«, sagte Bert.
»Sie ist sehr krank.«
Laura kam zurück, zischte uns im Vorbeigehen zu:»Rührt sie nicht an.«
Dann griff sie nach Dannys Hand und ging mit ihm zur Treppe. Während sie Tessa stillte, setzten wir uns in die Küche. Ich machte Kaffee, holte eine Cognacflasche aus dem Vorratsraum und kippte einen anständigen Schluck davon in jede Tasse. Bert lächelte dankbar. Erst als wir uns dann am Tisch gegenübersaßen, erkundigte ich mich vorsichtig:»Wie lange hat es deiner Meinung nach in der Ecke gelegen.«
Ein Achselzucken. Dann meinte Bert:»Es ist erstaunlich gut erhalten. Nach dreißig Jahren findet man normalerweise nichts mehr. Sogar der Stoff vom Kleid müßte in der Zeit zerfallen sein. Normalerweise hättest du vielleicht die Schuhe gefunden. Aber in der trockenen Luft hier .«
Es war nach vier, als Laura endlich kapitulierte, das Bündel von ihrem Bett nahm und uns hinaus in den Garten folgte. Gemeinsam mit Bert hatte ich in der Zwischenzeit das Grab tiefer ausgehoben, auch etwas in Länge und Breite zugegeben. Laura wollte in das Grab steigen. Bert half ihr dabei, stützte ihren Arm, als sie sich auf die Erde setzte und die Beine hinunterließ. Hielt sie unter den Achseln, während sie, die Decke fest gegen die Brust gepreßt, sprang. Dann ging Laura in die Knie, legte das Kind am Boden der Grube ab und richtete sich auf.
»Wir sollten das nicht tun«, sagte sie noch einmal.
»Wenn wir das Grab zumachen, kann sie nicht mehr raus.«
»Sie will auch nicht mehr raus«, erwiderte Bert.
»Sie wollte doch immer nur zu ihrer Mutter, nicht wahr? Jetzt ist sie bei ihr.«
Ich hatte Angst, einfach nur Angst um Laura. Wie sie da in dieser kleinen Grube stand, breitbeinig, das Gesicht zu uns gehoben, die Augen
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