Das Geheimnis der Salzschwestern
wie Ida die Zähne fletschte, wie die Luft zwischen den beiden Frauen beinahe knisterte.
Jo dachte, dass Ida ihrer Mutter vielleicht die Hand schütteln wollte, stattdessen streckte Ida die Finger nach ihr selbst aus, packte Jo mit rotlackierten Nägeln am Kinn und hob es an, um sich ihr Gesicht genauer anzusehen. Erstaunt ließ Jo die Arme sinken, woraufhin Claire aus ihrem Schoß zu ihrer Mutter zurückkrabbelte, sich den Finger in den Mund steckte und zu wimmern begann.
Ida lehnte sich so weit zu ihr vor, dass Jo jede einzelne ihrer falschen Wimpern beben sehen konnte. Ihr fiel auf, dass Ida sich mit der Zunge über die Lippen fuhr, als hätte sie auf einer Cocktailparty etwas Köstliches gegessen. Sie wirkte wie eine Frau, an der alles auf Hochglanz poliert war, als sie sprach, rasselte ihre Stimme jedoch wie ein Knochen im Kochtopf. »Es hätte dich treffen sollen«, knurrte sie mit leiser, harter Stimme.
Jo zuckte unwillkürlich zusammen und schrammte mit der Wange an einem lackierten Nagel entlang, als ihre Mutter dazwischenging, die nicht die geringste Lust hatte, sich von Ida etwas sagen zu lassen, und die ihr erst recht nicht das letzte Wort gönnte. »Denk daran, Ida«, fauchte sie. »Salz ist die Essenz des Himmelreiches und ergründet die Seele der Menschen, selbst deine.« Sie sah aus, als überlegte sie, welche Ader sie Ida zuerst aufschlitzen sollte.
Jo fragte sich, was ihre Mutter wohl damit meinte, wagte aber nicht zu fragen. Und außerdem ließ ihre Mutter sowieso ständig irgendwelche Sprüche und Binsenweisheiten verlauten. Die waren so altbekannt und abgenutzt wie die Kniehosen, die sie bei der Arbeit trug.
Unter ihrem Make-up erbleichte Ida. »Wenn ich will, kann ich mir alles nehmen, was dir gehört, Sarah Gilly, und es mir noch heute einverleiben. Das weißt du genauso gut wie ich.« Ihr Mund stand einen Moment offen, so als wollte sie noch etwas hinzufügen, dann biss sie jedoch die Zähne zusammen, machte auf dem Absatz kehrt und schob Whit den Gang entlang auf die Flügeltür der Kirche zu. Er drehte sich bekümmert zu Jo um, und in seinen Augen lag eine stumme Entschuldigung.
Jo erschauderte und griff nach der rissigen Hand ihrer Mutter. »Könnte sie das wirklich?«, fragte sie flüsternd. »Könnte sie uns tatsächlich alles wegnehmen?«
Das schwarze Kopftuch ihrer Mutter war verrutscht und entblößte ihre Haare, ein rotes Flammenmeer, das auf ihrem Schädel loderte. Sie spitzte die Lippen. »Sei doch nicht albern. Ich würde mir eher beide Arme abhacken, als Ida Turner auch nur einen Zentimeter von unserem Land abzutreten. Und jetzt steh auf, die Messe fängt an.« Genau in diesem Augenblick war Pater Flynn endlich so gnädig, mit flatternden Ärmeln und gefalteten Händen auf den Altar zuzuschreiten, als wäre gar nichts geschehen.
Nach der Andacht, nachdem die Frauen von Prospect mit kühlem Blick und noch kühleren Händen an sie herangetreten waren, Pater Flynn sie gesegnet und ihnen sein Beileid ausgesprochen hatte, ging Jo die Szene im Kopf ein ums andere Mal durch, während sie das letzte Stück des Weges nach Hause zurücklegten. Die Wut in Ida Turners Augen erschütterte sie noch immer. Die reichen Turners konnten die Gillys dort draußen in ihrer Marsch einfach nicht ertragen – das wusste jeder –, aber Jo hatte trotzdem das Gefühl, dass ihr irgendetwas entgangen war, ein kleines Puzzleteil, das an ihr nagte wie ein Schwarm Stechmücken. Sie dachte an Idas Schmuck, der sie wie eine Rüstung schützte, und den Lippenstift, der im Mundwinkel ein wenig verschmiert gewesen war.
Es hätte dich treffen sollen . Es war furchtbar, so etwas zu einem Kind zu sagen, aber auch seltsam, dachte Jo. Wenn Ida Mama drohen wollte, warum hatte sie dann ihre Tochter so angestarrt? Jo schlurfte durch den schmutzigen Sand und fühlte sich durch die abgestandene Luft mit all den vertrauten Gerüchen getröstet. Vielleicht hatte Ida ja ein kleines bisschen recht gehabt. Jo lebte und ihr Bruder nicht. Es hätte wirklich auch sie treffen können, und vielleicht hätte sie es sogar treffen sollen. Jo wusste es nicht mehr so genau. Wenn es um ihre Familie und die Salt Creek Farm ging, dann konnte sie selbst kaum sagen, wo die Dinge eigentlich anfingen und wo sie aufhörten, und im Laufe der Jahre würde diese Grenze zu ihrer großen Frustration noch weiter verschwimmen.
K APITEL 2
A ls Dee Pitman zum ersten Mal einen Blick auf Joanna Gillys entstelltes Gesicht warf, konnte sie sich des
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