Das Geheimnis der Salzschwestern
und Gegenwart gefragt. Die Zukunft bot mehr Spielraum für Interpretationen.
»Was willst du hier finden?«, wollte sie wissen, und bei dieser Frage schlug Dee voller Argwohn und Misstrauen die Augen auf.
»Was meinen Sie?«, hakte sie nach, aber Jo war klar, dass der Zauber des Salzes bereits durchbrochen war. Dee würde ihr nichts mehr verraten. Jo reichte ihr die große Holzschüssel. Wenn sie schon keine Antworten mehr von ihr bekam, dann aber wenigstens ein bisschen Hilfe bei der Arbeit. »Halt das gerade«, befahl sie.
Das müsste doch sogar sie hinbekommen, dachte sie. Gleich nach der Frühlingsflutung hatte Jo versucht, Dee beizubringen, wie man die Schleusen betätigte, aber dann mussten Claire und sie Dee an den Armen aus einem der Bewässerungsbecken ziehen. Als Dee es im Mai noch einmal damit versucht hatte, war sie mit blutendem Daumen und einem vor Matsch strotzenden Stiefel zur Scheune zurückgekehrt. Beim zweiten Mal hatte Jo nicht herausfinden können, wie es dazu gekommen war. Es war wirklich unglaublich, sie hatte noch nie jemanden getroffen, der so ungeschickt war. Jo überlegte, dass Claire und sie wohl am besten ein Sicherheitsnetz unter den kleinen Körper des Babys spannten, wenn es erst da war.
Die Schüssel schwankte und wackelte in Dees Armen, und Jo rückte sie wieder zurecht. Sie konnte es nicht riskieren, diese Ware, ihr kostbarstes Gut, zu verlieren, um die sich die Touristen wie gierige Hunde schlugen, weil sie unbedingt ein Stückchen echtes Kap im Gepäck mit nach Hause nehmen wollten. Sie stellte sich vor, wie diese Männer und Frauen damit in ihre Designerküchen zurückkehrten und die Flocken mit der Konzentration eines Chemikers auf dicke Steaks streuten. Schmeckten sie das Salz eigentlich wirklich, fragte sie sich, so wie die Leute in Prospect früher, die es ihren Torten und Kuchen hinzufügten, weil sie genau wussten, dass all das Süße der Welt ohne eine gewisse Würze nichts nützte?
Dee zuckelte über das Netz der Dämme hinter ihr her und hielt dabei die Schüssel so in den Armen, wie Jo es ihr gezeigt hatte. Ein- oder zweimal stolperte sie. »Soll ich so das Kind tragen, wenn es erst mal da ist?«, scherzte sie, Jo zuckte angesichts ihrer Worte jedoch zusammen, denn Dee hatte ja keine Ahnung, dass Jos Mutter früher genau das getan hatte. Sie hatte damals eine riesige Salzschüssel ausgekleidet und dann Jo und ihren Zwillingsbruder in ihre weite Krümmung gelegt. Jo erinnerte sich noch daran, wie sie Claire in einer solchen Schüssel in den Schlaf gewiegt hatte, bevor sie sie dann darin zum Herd trug, damit ihre Schwester es auch warm hatte.
Ich muss ein paar weiche Decken besorgen, dachte sie. Und Leinentücher. Und dann brauchen wir auch noch Windeln, Schnuller und Lätzchen. Und was war das noch für ein Schlaflied, das Mama immer gesungen hatte? Jo blieb schlagartig stehen, und Dee hätte sie beinahe umgestoßen.
Was ist denn bloß mit mir los , schalt sich Jo. Sie wurde ja plötzlich zur reinsten Glucke. Ob das Kind hier in der Marsch aufwachsen würde, hatte nicht sie zu entscheiden, vor allem, wenn es ein Junge war, der dem Fluch des Salzes zum Opfer fallen konnte. Das war allein Dees Sache. Aber früher oder später musste Jo sich mal mit ihr darüber unterhalten.
Dee blies die Backen auf und stellte die Schüssel auf den Boden. Sie war nicht schwer, nur voluminös. Jo glaubte nicht, dass es Dee schadete, sie zu tragen, aber was wusste sie schon?
Dee sah sie unbehaglich an. »Hab ich irgendwas Falsches gesagt? Das mit dem Baby in der Schüssel war doch nur ein Witz!«
Jo griff nach der Schale, reichte Dee stattdessen die Harke und setzte sich wieder in Bewegung. Als sie sich dem Haus näherten, erfüllte der schwache Duft von süßem Backwerk die Luft. Jo betrachtete das Schindelhaus, in dem sie ihr ganzes Leben verbracht hatte. Gut, es war ein wenig von Unkraut überwuchert, aber es hielt allen Wettern stand, war im Sommer kühl und steckte voller Geschichte. Vielleicht war es nicht der beste Ort, um ein Kind großzuziehen, aber bestimmt auch nicht der schlechteste.
Sie erreichten die Stufen der Veranda, und Jo drehte sich zu Dee um. Sie ist nur ein Kind, das ein Kind bekommt, dachte sie. Sie wird Hilfe brauchen. Jo war kinderlos geblieben, aber hatte sie früher nicht immer auf Claire aufgepasst? Ihr Ratschlag war wohl besser als keiner, und außerdem hatte Dee sonst niemanden.
Je länger Dee auf der Salt Creek Farm blieb, desto mehr hatte Jo das
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