Das Geheimnis der Salzschwestern
Boden trampeln. »Wieso? Was hat meine Schwester denn gesagt?« Und da war es dann wieder, plötzlich machte Dee einfach dicht – sie biss die Zähne aufeinander, und ihre Augen waren mit einem Mal vielleicht etwas zu groß. Was verheimlicht sie mir bloß, fragte sich Jo und rührte ihren Tee um. Das war der Nachteil daran, wenn man Leute – sogar Familienmitglieder – auf die Salt Creek Farm ließ. Jo hatte das Gefühl, dass die Dinge sich plötzlich an allen Ecken und Enden aufzulösen begannen und sie gar nichts davon mitbekam, bis irgendwann alles in einem schrecklichen Knall endete. Und was würden dann alle tun? Jo um Hilfe bitten, was sonst?
Sie seufzte und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Weißt du, Whit und ich waren einmal sehr gute Freunde.«
Dee nickte, und Jo sprach weiter, obwohl ihr die Worte im Hals brannten wie zu heißer Kaffee. Einerseits hoffte Jo beinahe, Dee würde zu Claire laufen und ihr alles brühwarm erzählen, andererseits wusste sie ganz genau, dass sie sich das niemals trauen würde. »Heute erscheint es mir fast unvorstellbar, aber es stimmt. Das ist eine wirklich seltsame Geschichte – ich weiß auch nicht so genau, warum ich sie dir überhaupt erzähle –, aber in d em Sommer, als ich fünfzehn war, wollte Whit mir etwas zur Erinnerung an ihn schenken. Und zwar das gleiche Schmuckstück, das er später dir gegeben hat – ein Medaillon mit eingraviertem W. Ich habe mich aber nicht getraut, es zu behalten. Ich hatte zu viel Angst davor, seine Mutter Ida würde es herausfinden und mir den Hals umdrehen. Weißt du, eigentlich sind Turners und Gillys nicht besonders gut aufeinander zu sprechen.«
Dee nickte, also redete Jo weiter, auch wenn es ihrer Stimme schwerfiel, weil sie einfach aus der Übung war. »Ich glaube aber, dass Ida es trotzdem herausgefunden hat. Ich habe Pater Flynn nämlich einen Laib Brot vorbeigebracht, und bin in St. Agnes über einen Brief an die Jungfrau gestolpert.«
Dee lehnte sich vor. »Von wem?«
Jo zögerte. »Von Ida.«
»Haben Sie ihn gelesen?«
Jo nickte. Das hatte sie noch nie jemandem erzählt.
»Und was stand darin?«, fragte Dee.
Jos Stimme klang abwesend. »Die letzte Zeile ist mir in Erinnerung geblieben: Magna est veritas, et praevalibet .«
Dee runzelte die Stirn. »Was zum Teufel soll das denn heißen?«
»Die Wahrheit ist groß und wird obsiegen«, übersetzte Jo. »Das ist aus der Vulgata, der alten lateinischen Ausgabe der Bibel. Ich hab Pater Flynn danach gefragt, was es heißt. Er hat mir verraten, dass er die alte Messe auf Lateinisch immer besser fand.« Das konnte Jo nachvollziehen. Manchmal war es besser, sich Gott nicht als denkendes, logisches Wesen anzunähern, sondern eher wie ein leeres Gefäß, das gefüllt werden konnte. Ein Windstoß rüttelte an den Küchenfenstern. Der Abend zog herauf.
Jo stand auf, rückte die Tassen zurecht und ließ die Hände neben dem Körper hängen. Was sie im Leben bedauerte, ruhte als drückende Last auf ihr, schwer wie ein Mühlstein, der Knochen zermalmen konnte. Der Nachmittag war ohnehin schon hinüber, warum also nicht jetzt mit der Sprache herausrücken? Jo drehte sich wieder um.
»Wenn du wirklich hierbleiben willst, gibt es da etwas, das du wissen musst.«
Ungewöhnlich ernst beugte sich Dee zu ihr vor.
»Vielleicht hast du in der Stadt schon einmal davon gehört: Knaben sind auf diesem Land nicht willkommen.« Jo zauderte. »Ich will nicht sagen, dass ich an so etwas glaube, aber Stein lügt nicht. Hier draußen sind nur die Knochen von Jungen und Männern begraben.«
Dee hörte ihre Worte schweigend an, also atmete Jo tief durch und schob ein weiteres kleines Geständnis hinterher.
»Ich glaube, meine Mutter hat versucht, etwas dagegen zu unternehmen, als mein Bruder und ich geboren wurden. Vor ihrem Tod hat sie mir eine Geschichte über Unsere Liebe Frau erzählt. Sie hat etwas Furchtbares getan, was genau, darf ich aber nicht verraten.«
Dees Augen waren jetzt groß wie Untertassen. »Und, hat es funktioniert?«
Jo schwieg kurz. Sie wusste, dass sie nun an einem gefährlichen Scheideweg stand, aber sie fand einfach keinen positiven Rahmen, um den Rest der Geschichte darin einzubetten. Sie dachte über Dees Frage nach. Hatte ihre Mutter ihr Schicksal verändert? Ohne es zu wissen, hatte Dee den Finger direkt in die Wunde gelegt.
»Ja und nein«, antwortete Jo schließlich. »Meinen Bruder konnte sie nicht retten, aber sie hat in dieser Nacht etwas anderes
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